Gefahr für neurodivergente Menschen: Selbstausbeutung durch überzogene Selbstkritik

Kritisch mit sich selbst zu sein und sich selbst nicht alles zu glauben, ist ein wesentliches Moment der Selbstbegegnung. Fatal wird es, wenn das Sich-Hinterfragen eine Eigendynamik entwickelt. Dann wird das Leben scheußlich. Auf Schritt und Tritt belauern wir uns selbst, in der Hoffnung auf den entscheidenden Entwicklungsschritt. Doch gerade durch dieses Selbst-Beäugen mit Argusaugen wird dieser erhoffte Befreiungsschlag ausbleiben. Besonders gefährlich ist das für neurodivergente* Menschen.

Dauerhaft ankommen bei sich selbst – was kann es Schöneres geben? 
Hinter dem Wandel der Zeit und der eigenen Veränderung über die Lebensspanne, bleibt jedoch ankommen bei sich selbst eine spannende und durchaus herausfordernde Daueraufgabe. So bald wir uns fragen, ob wir wirklich so leben wie es unseren inneren Überzeugungen von „unserem Leben“ entspricht, legen wir Maßstäbe an. Sind diese Maßstäbe wirklich unsere eigenen oder haben wir diese (unbewusst) von anderen übernommen? In unserer frühkindlichen Identitätsbildung ist es gerade Programm, Identitätsanteile von anderen nicht hinterfragt als eigene Anteile aufzunehmen. Wir können demnach gar nicht per se wissen, was eigene Identitätsvorstellungen sind und was nicht. Bis auf den tiefsten Kern des Selbst entwickeln sich diese erst im Laufe des Lebens. Wobei wir lernen zu hinterfragen, was und wer wir sind. Wir lernen uns durch unser „Sein in der Welt“ beständig neu kennen, müssen Annahmen über uns verändern und bekommen Annahmen bestätigt, die wir als Gewissheiten verinnerlichen.

Wieso neigen wir dazu uns selbst zu überfordern? Ohne es zu bemerken freilich…
Als Kinder der Leistungsgesellschaft lernen wir nicht nur, dass sich Leistung durchaus lohnen kann. Wir lernen auch, dass Leistung häufig nur anerkannt wird, wenn sie mit einem für andere sichtbarem Leid verbunden ist. (Siehe „Liebe durch Leiden“). Wir können also gar nicht so ohne Weiteres feststellen, wo wir einen hohen Selbstanspruch aus einer erworbenen Expertise heraus an uns legen oder wo wir destruktiven Über-Ich-Forderungen (nach Freud) folgen, die übrigens nie objektiv sind. Diese Forderungen sind Teil unseres Identitätsbildungsprozesses, wie oben beschrieben, und können deshalb gar nicht einfach hinterfragt werden. Erst unser „Sein in der Welt“ und unsere Selbstbeobachtung kann uns darauf hinweisen, wo wir Forderungen nachlaufen, die überzogen und damit destruktiv sind.

Selbstüberforderung tut gut
Überfordern wir uns selbst, geben wir uns die Bestätigung, mehr als genug zu leisten. Wir zeigen uns, wir sind gebraucht, weil wir etwas vollbringen, sind wertvoll, weil wir uns engagieren. Haben wir trotzdem wenig Erfolg, können wir uns vor uns selbst und anderen sicher sein, wenigstens alles getan zu haben. Wir und andere können uns keinen Vorwurf machen, zu wenig getan zu haben. 

 

Erst, wenn ich mich selbst überfordere fühle ich mich gut!

Selbstüberforderung vollführen wir auch in Ablenkungen. Wir geben Gefühlen wie Langeweile oder sogar nur Untätigkeit nach und lassen uns mit TikTok, YouTube und Social Media aller Art berieseln. Das tut im Moment gut, entspannt, aktiviert uns passiv. Doch es lässt uns leerer und gelangweilter und mit der Gewissheit nichts Gutes für uns getan zu haben zurück. Verloren ist die Zeit. Denn nicht einmal erholt fühlen wir uns. Sogar die gesuchte Erholung haben wir nicht gefunden. Das Leben wird als permanente Forderung wahr genommen, zu leisten, zu machen, zu tun. Selbst in der Erholung! Auch, wenn wir tatsächlich uns nur hingeben in die Flut an Informationen. Das Fatale daran: wir bekommen ja ständig bestätigt, das ein oder andere wirklich Interessante und Wissenswerte ist durchaus dabei. Würden wir nicht Doomscrolling betreiben, wüssten wir manches Vorteilhafte nicht. Fear of missing out (FOMO), die Angst etwas Wichtiges zu verpassen. Also können wir es uns immer schönreden, wenn wir versacken in der flirrenden, digitalen Welt.

Selbstüberforderung, der lautlose Schrei nach (Selbst-)Liebe
Wir überfordern uns mit Tun und Ablenkung. Denn wir haben verinnerlicht, nur wer etwas tut, tut auch etwas. Nur das tun wird geheiligt. Ob es in diesem Moment sinnvoll ist, wird seltenst hinterfragt. Allein der Tätige wird gepriesen. Aktionismus ist unser eigentliches Dasein. Wir bewerten uns gegenseitig ob wir tun. Erst danach, was und wie wir tun. Wer „nichts“ tut steht unter Generalverdacht. Wer etwas Sinnloses, Dummes oder Fragwürdiges tut, tut immerhin etwas. Das lässt sich evtl. korrigieren oder anders interpretieren. Die tatsächlichen Folgen des Tuns sind im Moment des Tuns ja häufig noch nicht absehbar. So frönen wir der Aktivität und fühlen uns allein dadurch (selbst-)geliebt. Doch Aktivität der Aktivität willen, also Aktionismus, allein ändert gar nichts an unserem inneren Zustand und der Beziehung mit uns selbst. Wir finden nicht mehr über uns heraus. Wir lernen und nicht besser kennen. Wir kennen damit unsere wahren Bedürfnisse nicht. Aktionismus dient der Emotionsregulierung und Affektbewältigung. Wir spielen uns vor, etwas für uns zu tun. In Wahrheit kommen wir immer weiter von uns weg.

Selbstüberforderung durch den Vergleich mit anderen
„Das Vergleichen ist das Ende des Glücks und der Anfang der Unzufriedenheit“ (Søren Kierkegaard). Doch woher kommt ständiges Vergleichen mit anderen? Es ist wohl ein wertvolles Momentum, damit menschliche Gemeinschaften überhaupt funktionieren und sich entwickeln können. Doch „alles ist Medizin“, weil „Allein die Dosis macht, dass ein Ding kein Gift sei“ (Paracelsus). Der Vergleich kann anspornen. Der Vergleich kann lebens-müde machen.

Gehören wir uns noch selbst, wenn wir uns selbst überfordern?
„Niemand gehöre einem anderen, der sich selbst gehören kann“ (Paracelsus). Überfordern wir uns selbst, folgen wir nicht hinterfragten, weil z.T. nicht hinterfragbaren Über-Ich-Forderungen. Wir liefern uns selbst an Aktivität aus, die gar nicht unseren Bedürfnissen entsprechen. Gehören wir uns noch selbst, wenn wir tun was wir als „Wahrheit“ angenommen, jedoch nie überprüft haben, ob es auch für uns wirklich gültig ist?

Neurodivergente Menschen unterliegen einer besonderen Gefahr
Wer von der Norm abweicht, ist per se einer kritischeren Betrachtung und damit Bewertung ausgesetzt als neurotypische Menschen. Es schwingt das Nicht-ganz-richtig-sein als permanenter Vorwurf, ja als gewisse Bedrohung mit. Denn erst durch das Vorhandensein von Menschen, die „anders ticken“ wird allen anderen deutlich was „normal“ sein könnte. Schließlich ist es beruhigend „normale Menschen“ um sich zu haben. Von diesen geht vermeintlich keine Gefahr aus. Und wenn es nur die Gefahr ist, einen Spiegel vorgehalten zu bekommen. Nicht jeder kann mit dem Aufdecken von blinden Flecken gut umgehen.

Wer Zeit seines Lebens mehr oder weniger aktiv vorgehalten bekommen hat, „anders“ oder gar „nicht ganz richtig“ zu sein, glaubt das irgendwann selbst. Und – das ist das Fatale – lernt, sich selbst kritischer zu betrachten als es natürlich wäre. Die Über-Ich-Forderungen sind omnipräsenter ausgereift und quasi schon in die Identität integriert: Es geht letztlich nicht mehr ohne überkritische Selbstbetrachtung. Einfach Sein im Da-Sein im So-Sein-wie-man-eben-ist, ist fast nicht mehr möglich. Oder eben nur in Momenten der Hingabe, des Erfolges, des Für-sich-Seins. Wobei das Anders-Sein nur erkannt wird, weil es einem andere (ständig) vorhalten oder vor Augen führen. Der Betroffene fühlt sich für sich überhaupt nicht „nicht ganz richtig“ oder „anders-tickend“. Für sich selbst ist alles in bester Ordnung. Schließlich kennt er sich Zeit seines Lebens nicht anders und hat die Vorzüge seines So-Sein-wie-ich-eben-bin kennen gelernt.

Kopf hoch und Ohren steif!
Auch wenn der Alltag inmitten einer ganz überwiegend neurotypischen Welt für neurodivergente Menschen grundsätzlich anstrengender ist. Auch wenn sich das nicht ändern lässt. Es gilt ganz besonders heraus zu finden, worin die eigenen Vorzüge und Neigungen sind und um was man am besten einen weiten Bogen macht. Dies ist nicht lediglich Lebensaufgabe, wie sie einem jeden auferlegt ist der sich selbst begegnen/ausleben/verwirklichen oder einfach nur nett leben will. Als neurodivergenter Mensch ist es meist eine nüchterne Notwendigkeit, um überhaupt gesund am normalen Leben teilnehmen zu können.

*Neurodivergenz, z.B.: AD(H)S, Autismus-Spektrum-Störung (ASS), Legasthenie, Dyskalkulie, Dyspraxie, Synästhesie, bipolare Störung, Tourette-Syndrom, Hochbegabung, Hochsensibilität