Ein Nachfolgeprozess in einem Unternehmen ist ein Fall mit vielen Aspekten. Diese Aspekte greifen komplex ineinander und entwickeln sich über die Zeit. Und Zeit ist ein wesentlicher Faktor eines gelingenden Nachfolgeprozesses. Ist es überhaupt möglich, einen Nachfolgeprozess optimal zu gestalten? Ein Blaupause oder einen Standardablauf kann es nicht geben. Dazu ist nicht nur die Sachlage jeweils zu individuell. Gerade die Wirkungen der Persönlichkeiten und des gewachsenen Miteinanders in Unternehmen und Unternehmerfamilie sind vielfältig und bedürfen deshalb Achtsamkeit, Umsicht und Feingefühl. Gleichzeitig ist strukturiertes und konsequentes Vorgehen unabdingbar.
Inhalt:
Teil 1: Die Menschen und ihre Bedürfnisse
a) Der Übergebende
b) Der Übernehmende
c) Codex für den Übergabeprozess
d) Beispiel einer misslungenen Übergabe
Teil 2: Das Unternehmen und seine Bedürfnisse
a) Das Unternehmen
b) Konfliktvorbeugung
a) Der Übergebende
Das Lebenswerk
Ein Unternehmen als Eigentümer:in zu führen ist eine sehr große, vielfältige und dauerhaft fordernde Aufgabe. Jedoch auch eine sehr schöne – hoffentlich! Sie ist Selbstverwirklichung, Leidenschaft, Selbst-Verständlichkeit und häufig auch Tradition. Erhebliche Anteile seiner Lebenszeit in eine Sache zu investieren bedarf Bewusstheit und Wahl. Diese Wahl ermöglicht viel und fordert viel. Häufig ist der/die Eigentümer:in Gesicht des Unternehmens. Sowohl in der Geschäftswelt nach innen und außen, wie auch im sozio-ökonomischen Umfeld beruflich wie privat. Es also ein ganz anderes Statement an die Welt als Eigentümer:in aufzutreten und für viele Auswirkungen des Unternehmens „Gesicht“ zu sein. Eigentümer:innen stehen deshalb viel mehr in der Öffentlichkeit, quasi unter Beobachtung, als ihnen oft selbst bewusst ist. Das Leben(-swerk) steht unter einer gewissen „öffentlichen Zugängigkeit“. „Privat“ ist der/die Unternehmer:in in der Öffentlichkeit deshalb nie. Ein Statement, das gelebt werden will. Ein Lebenswerk, das Bestätigung will und verdient. Deshalb ist die Nachfolge ein so bedeutender, einmaliger Schritt. Er kann die Krönung des Lebenswerkes sein: dieses Werk in die Obhut anderer Hände legen, weil die Zeit dafür gekommen ist. Durch den Fortbestand das eigene Wirken nachhallen und auch verstärken lassen. Das Lebenswerk ist endlich. Es geht mit dem/der Eigentümer:in mit in dessen Lebenserinnerungen. Der/die neue Eigentümer:in integriert das Unternehmen auf ganz eigene Weise ins eigene Leben.
Berufsidentität
Sich über den Beruf zu definieren ist in unserer Leistungskultur nicht nur weit verbreitet. Ich bin überzeugt, es ist ein zutiefst menschliches Bedürfnis sich als das wahr zu nehmen, mit was man sich täglich ganztägig beschäftigt und das die eigene physische, psychische und soziale Lebensgrundlage und das der Familie sichert. Ja, das Leben mit für sich und andere Wichtigem, Interessantem, den eigenen Stärken, Talenten und Interessen zu füllen. Dabei spielt es keine Rolle, ob dies in den eigenen vier Wänden erfolgt, „Care Arbeit“ genannt wird oder außer Haus sich in irgend einer Tätigkeit darstellt mit der Tauschware (Geld) erworben wird. Alle Aufgaben um ein Leben, eine Familie zu versorgen sind gleich wichtig. Sich über diese zu definieren ist ein menschliches Urbedürfnis. Dann gehören wir dazu. Von frühester Kindheit bis ins hohe Alter. Das war noch nie und nirgends auf der Welt anders. Es ist jedem zu wünschen, sich eingebunden zu fühlen in eine wohlwollende, schützende und stützende Gemeinschaft. Vom ersten bis zum letzten Atemzug. Dieses menschliche System des Überlebens und der Weiterentwicklung funktioniert toll, wenn jeder auf seine Weise seinen Beitrag leistet. Zur Berufsidentität gibt es diesen und diesen Beitrag.
Frühzeitig beginnen
Idealerweise ist sieben bis zehn Jahre vor der geplanten Betriebsübergabe eine:n Übernehmer:in zu finden oder systematisch aufzubauen. Ein „Fehlschuss“, der ein paar Jahre Zeit kosten kann, ist einzukalkulieren. Ebenso wie die systematische Neuorganisation von Prozessen und Zuständigkeiten. Schließlich sind die Verantwortlichkeiten des Übergebenden vollständig neu abzubilden.
Der frühzeitige Beginn gibt auch dem inneren Prozess für Abschied und Neubeginn Zeit und Raum. Diese Endgültigkeit des Abschieds ist ein Schritt, der mit Bewusstheit und Würde gegangen werden will. Umso nachhaltig wirkungsvoller und kraftvoller gelingt er (siehe Beispiel gescheiterte Übergabe unten)
Klarheit über die Motive der Übergabe
Für eine gelingende Übergabe ist Selbstreflexion und damit einhergehende Selbstdistanz entscheidend. Erst eine gewisse Distanz ermöglicht überhaupt erst die Übergabe. Sie ist unabdingbar für das Entstehen von Neuem – für den Übergebenden, den Nachfolgenden wie das Unternehmen:
- Wieso will ich mein Unternehmen übergeben?
- Wieso zum geplanten Zeitpunkt?
- Wer war ich immer für das Unternehmen, die Mitarbeitenden, Kunden, Partner und Lieferanten?
- Welche ganz konkreten Absichten verfolge ich für mich und das Unternehmen damit?
- Welche (geheimen) Wünsche verfolge ich mit der Übergabe?
- Was gilt für mich bis zur Übergabe?
- Was gilt für mich nach der Übergabe?
Auch wenn sich die Antworten auf diese Fragen über die Jahre ändern oder ergänzen. Auch, wenn diese Fragen im Moment sehr fordernd, gar überzogen oder unnötig, weil offensichtlich wirken. Später im Prozess werden sie „zur Sprache kommen“, sei es ausgesprochen oder unausgesprochen. Wie jemand zu Sachlagen oder Personen steht, lässt sich auf Dauer nicht verbergen.
Leider ist es Realität und muss deshalb deutlich gesagt werden: Die größte Gefahr in der Nachfolge geht vom Übergebenden aus.
Je größer die Reflexionsbereitschaft und -willigkeit, desto größer die Chance einer gelingenden Übergabe.
Wichtig: strategische und distanzierte Haltung
Unabhängig von bereits vorhandenen Vorstellungen kann sich der Übergebende üben, eine emotional distanzierte Haltung einzunehmen. Sie ist in ihrem Wert für strategische Überlegungen und Entscheidungen nicht hoch genug zu bewerten. Der Übergebende kann sich den gesamten Nachfolgeprozess deutlich leichter machen, indem er sich in abstrakten jedoch realistischen Fragestellungen übt. In jeder Antwort auf die folgenden Fragen stecken, wenn auch nur winzige, Wahrheiten. Sie sind für die Vollständigkeit des Ablöseprozesses und das Gestalten des Neuen sehr hilfreich.
Ich könnte mit diesem Unternehmen auch:
- Es über Jahre auslaufen lassen.
- Es sofort, ohne jegliche Rücksicht auf Irgendwas beenden.
- Die Gesellschafterstruktur sukszessive oder mit einem Schlag ändern.
- Die Rechtsform ändern um Risiken anders zu begegnen.
- Es von einer Geschäftsführung operativ weiter betreiben lassen (steigert meist den Verkaufspreis).
- Es interimistisch von einer Geschäftsführung oder in Teilen (Co-CEO, CFO, COO, CPO usw.) führen lassen.
- Es verkaufen (Diverse Konstellationen wie verschieden Arten von Investoren, Management-buy-in oder Management-buy-out).
- Es in Teilen beenden oder verkaufen.
- Es so weit schrumpfen, dass ich alleine, quasi als Hobby weitermachen kann.
Ich empfehle sehr, die genannten Optionen im ersten Schritt völlig wertungsfrei „auf der Zunge zergehen zu lassen“. Und zunächst keinen Hauch einer Bewertung vorzunehmen, ob diese sachlich überhaupt möglich sind, ob das dem eigenen Willen entspricht oder ob das mit Traditionen vereinbar ist.
Eine rein sachliche Haltung einzunehmen ist sehr sehr schwer. Gefühlt gelingt uns allen das meistens sehr gut. Tatsächlich ist dies jedoch die Schwierigste in der Selbststeuerung überhaupt. Sie ermöglicht weitgehend Sache von Gefühl zu trennen. Dadurch werden Verstrickungen reduziert oder vermieden, die Probleme verursachen und Lösungen unmöglich machen können. Eine tatsächlich verfügbare Kompetenz darin zu entwickeln lässt sich trainieren. Doch das dauert. Schließlich braucht es dazu auch Situationen, die unwillkürliche und damit nicht steuerbare starke Gefühle auslösen. Die Erkenntnis überhaupt zu zu lassen „Ja, das macht was mit mir.“ Ist der entscheidende Wendepunkt, um überhaupt eine Selbst-Beobachter-Position (Meta-Position) einnehmen zu können. Den meisten gelingt dies, gerade wenn sich jemand neu damit befasst, nicht. Ein professioneller Begleiter kann dabei sehr hilfreich sein, denn viele scheitern daran nachhaltig.
Der Übergebende ist sich bewusst:
- Die Art und Weise wie die Übergabe vonstatten geht richtet sich in keinem noch so kleinen Aspekt gegen ihn.
- Es wird zu „Entdeckungen“ kommen, die als Schwächen/Fehler/Nachteil/Blinde Flecken/Nachlässigkeit interpretiert werden können. Der Übernehmende hat diese in keinem Fall zu bewerten oder gar gegen den Übernehmenden zu verwenden.
- Es werden Vorgehensweise, Prozesse, Strukturen, Werte verändert oder anders gelebt werden. Das hat jeweils wohl überlegte Gründe.
- Es kann an mancher Stelle im Unternehmen oder bei einzelnen Personen zu einem wahren „Aufblühen“ kommen. Gleichzeitig kann Ärger oder gar Frust an anderer Stelle entstehen.
- Was immer funktioniert hat, funktioniert plötzlich nicht (mehr) so.
- Was nie funktioniert hat, funktioniert plötzlich (irgendwie).
- Die Unternehmerischen Interessen, die Interessen der Rolle als Unternehmer:in werden irgendwann nicht mehr berücksichtigt.
- Auch nur beiläufig gemachte Äußerungen wie: „Ich hab’s ja gleich gewusst/ Ich hab’s ja immer schon gesagt/ Das habe ich kommen sehen/ Man hätte da… usw.“ richten sich emotional immer gegen den Sprechenden. Und wenn es noch so juckt: Lass es!
- Viel hilfreicher ist Motivierendes wie: „Ihr packt das/ Ihr könnt das/ Ihr bekommt das schon hin/ Da habe ich keine Zweifel/ Wird schon/ Nur zu“ usw.. Das motiviert den Sprechenden auch selbst. Zudem hat der Übergebende einiges vor in Zukunft und braucht seine Kräfte dafür, oder?
Sehr hilfreich ist auch sich zu sagen: Nur, weil es jetzt anders läuft, muss das nicht schlechter sein. Es wird sich zeigen.
Das „Hin-zu“ ist die wichtigste Zugkraft
Was wir über uns denken bestimmt, was aus uns wird: Was ist mir eine Selbstverständlichkeit? Das gelingt mir. Natürlich mit Aufs und Abs. Diese Erfahrung macht jeder Unternehmende, jeder der etwas anpackt. Jede Lebensstufe will angepackt werden. Als neue, allein gültige Wahrheit ausgelebt werden. Als einmalige Chance ganz bestimmte Dinge zu tun, ganz bestimmtes zu werden, jemand ganz bestimmtes zu sein.
Immer wieder zeigt sich, bei vielen ist dieses „Hin-zu“ viel zu abstrakt, zu rosarot. Ja, es ähnelt der Verliebtheitsphase von 1-2 Jahren in einer Liebesbeziehung. Und wie auch dort entwickelt sich eine echte, belastbare, reife Beziehung erst nach dieser „Schmetterlinge im Bauch-Zeit“. Für „die nächste Lebensphase“ (bewusst unterlasse ich den Begriff „Ruhestand“) braucht es eine gesetzte und damit krisenfeste „Hinein-Reifung“ in die nächste Lebens-Entwicklungsstufe, das Alter und hohe Alter. Alle Übergänge beinhalten Krisen. Krisen sind tatsächlich die Ursuppe jeglicher menschlicher Metamorphose. Kern dieser Krisen ist ein Abschied vom Bekannten und die Unsicherheit im Hinblick auf das Neue. Diese Unsicherheit ist völlig natürlich, denn niemand kann mit Sicherheit sagen, wie es ihm im nächsten Lebensabschnitt ergehen wird. Zwar erleben wir viele Beispiele von Älteren. Doch in wie weit trifft dies wirklich auf einen selbst zu?
Das „Weg-von“ ist die wichtigste Schubkraft
Alles hat seine Zeit. Alles überlebt sich. Was attraktiv war, was wir mit viel Herz(-Blut), Schweiß und Tränen aufgebaut haben, vergeht, zerrinnt zwischen den Fingern. Irgendwann. Je fester wir versuchen es fest zu halten, umso schneller zerrinnt es. Eben, wie Sand in der Hand. Das überdrüssig werden, das – so schmerzhaft es auch sein mag – nicht mehr fähig genug, nicht mehr gebraucht zu werden für Bestimmtes, ist gut. Es zeigt uns klar: „Das war’s hier für dich!“ Überdruss, Langeweile, vermehrte Anstrengung bis hin zur Selbstausbeutung, beginnende Abscheu ja Ekel, zeigen uns nüchtern die Endlichkeit. Wir wollen etwas loswerden. Fast schon um jeden Preis. Das steckt wertvolle Energie drin, die frei werden kann für das Neue.
Wenn ich an etwas festhalte, begrabe ich meine Zufriedenheit
Jeder Mensch erkennt im Rückblick wie oft und wie sehr er sich verändert hat. Äußerlich ist das schlicht nicht zu leugnen. Bei Überzeugungen und Vorlieben verhält es sich zwar identisch, doch zugeben wollen oder besser können dies nicht alle. Halten wir an etwas fest, halten wir, wenn wir genau hinsehen und die Erkenntnis zulassen, an einer Illusion fest. Wir verklären die Vergangenheit, denn unsere Gefühle zu Ereignissen ändern sich. Unsere Erinnerungen verflachen, indem sie Positives oder Negatives übersteigern. Je nachdem welche Überzeugungen wir haben. Sie lassen Details übergroß werden oder ganze Passagen verschwinden. Je nachdem, was uns wichtig war und ist. Vom Abbilden einer Realität kann bei Erinnerungen nicht gesprochen werden. Aufzeichnungen und der Austausch mit anderen helfen uns, annähernd „Wahrheit“ zu konstruieren.
Würdigung des eigenen Lebensweges und der aktuellen Lebensphase
Nur wenn es gelingt den eigene Lebensweg ganz zu würdigen, ist eine Entwicklung der Identität möglich. Die Identitätsentwicklung vom/von Unternehmer:in zum/r ehemaligen Unternehmer:in. Sieht sich der Übergebende nach dem Schritt aus dem Unternehmen immer noch als aktiver Unternehmer, ist dies ein Klammern an eine vergangene Identität. Dies macht es unmöglich stimmig und „gesund“ den neuen Lebensabschnitt auszuleben. Es macht es auch für den Übernehmenden unmöglich sich voll in die für ihn nun nicht nur attraktive, sondern erfolgsentscheidende Identität als Vollblut-Unternehmer:in entwickeln zu können. Möchte der Übergebende bis zum Grab Unternehmer bleiben, darf er das Unternehmen nicht übergeben oder muss sich anderweitig unternehmerisch betätigen.
So bald wir eine berufliche Rolle annehmen. So bald wir sozusagen eine neue berufliche Identität annehmen, ist es für uns aus verschiedenen Gründen sehr wichtig diesen Schritt in vollem Bewusstsein zu tun. Gleichzeitig auch im vollen Bewusstsein mit uns Klarheit zu schaffen und uns einzugestehen, dass auch diese Identität, diese Sicherheit und Selbstvergewisserung „jemand zu sein“ irgendwann einen letzten Tag haben wird. Der/die Übergeber:in sollte, wie der/die Übernehmer:in, die Übergabe selbst als wichtigen Reifungsschritt wahrnehmen. Erst mit der vollständigen Übergabe ist dieser persönliche Reifungsschritt getan.
Dankbarkeit für das was war und wohl noch sein wird
Alles hat ein Ende. So oder so. Das wissen wir bereits, noch bevor wir mit etwas beginnen. Doch nehmen wir auch Dankbarkeit für das was war in uns wahr? Oder nur den Schmerz des Verlustes? Nur das, was dann nicht mehr (möglich) ist? Vermeintlich. Denn wir können sehr viele Qualitäten Zeit unseres Lebens aufrecht erhalten oder gar reifen lassen. Die Ausprägung ist freilich eine andere.
Abschied und Neubeginn
Das ganze Leben ist im Großen wie im Kleinen eine einzige Abfolge von Abschied und Neubeginn.
- Wenn sich ein Abschied ankündigt, welche Gefühle erzeugt das bei mir?
- Wenn es zu einem Abschied kommt, wobei tue ich mich immer schon schwer?
- Was hingegen fällt mir bei einem Abschied schon immer leicht?
- Wie geht es mir, wenn sich etwas Neues ankündigt, ich es jedoch noch nicht richtig greifen kann? Wie reagiere ich da?
- Was reizt mich bei Neuem?
- Was langweilt mich bei Neuem?
- Kann ich Bestehendes einfach nur rundum genießen? Oder bin ich immer auf dem Sprung?
- Bin ich mit mir, meinem neuen Lebens-Schritt, mit dem was kommen wird, mit dem was war im Reinen? Nur wenn wir mit uns selbst vollständig im Reinen sind, können wir abschließen und anderen vertrauen. Anderen anvertrauen, was uns wichtig ist.
In die besten Hände legen
Etwas „in die besten Hände legen“ ist die Grunddynamik erfolgreicher Delegation. (Die „besten Hände“ sind demnach die besten verfügbaren, nicht die besten per se.) Nur weil etwas bisher von jemandem gemacht wurde, heißt das noch lange nicht, dass dies (immer noch) die besten Hände dafür sind. Alles im Leben hat seine Zeit. Jedes Handeln und Werden steht in einem Kontext, beeinflusst und bedingt anderes (Systemtheorie/ systemisches Denken und Handeln). Demnach gibt es eine Zeit in welcher ganz bestimmte Aufgaben und Verantwortungen von ganz bestimmten Menschen erfüllt und getragen werden sollten. Der Mensch muss in das tiefere Verständnis einer jeden Aufgabe und die damit zusammen hängende Verantwortung hinein reifen. Es gilt Antworten zu liefern, eben Ver-Antwort-ung. Wer dies zuverlässig und nachhaltig kann, dem wird vertraut.
Es wird gefragt: Was wird durch diese Verantwortung gewährleistet?
Es sollte nicht nur gefragt werden: Was wird in dieser Verantwortung getan?
Wir setzen uns über die weit verbreitete Annahme hinweg: Nur wer etwas tut, tut etwas. Wir fragen demnach nicht mehr, was jemand tut. Wir fragen: Was erfüllt jemand? Was wird dadurch? Auch dies nicht eingeschränkt ausschließlich auf die betrachtete Aufgabe, sondern auch im Weiteren mit seinen Auswirkungen auf anderes.
Beispiel:
Bisher hat sich der Eigentümer nicht nur sehr für das Netzwerken mit Kunden und Geschäftspartnern verantwortlich gefühlt. Dies ist vielmehr sein ureigenstes Verständnis von Unternehmertum und seine Selbstdefinition. Darauf begründete sich der Erfolg des Unternehmens in jeglicher Hinsicht, denn nicht nur nachhaltige Aufträge mit angenehmen, wohlwollenden und elastischen Leistungsempfängern und Lieferanten, sondern auch viele innovative Produkte und Leistungen entstanden daraus. Die wiederum das Wohlwollen aller erzeugten. Aus diesem Auftreten und der Wahrnehmung seiner Person heraus entstand maßgeblich seine Identität als Unternehmer: Diese Persönlichkeit steht für Unternehmertum, Leistung, wertvolle Produkte und Leistungen, höchste Qualität und Zuverlässigkeit, Kontinuität, Krisenkompetenz usw. und damit für hohe Lebensqualität für alle Beteiligte, Kunden, Mitarbeitende, Lieferanten sowie das sozio-ökonomische Umfeld. Der Name des Unternehmers ist mit dem des Unternehmens quasi identisch und steht für Integrität pur. Aus Altersgründen ist dies irgendwann einmal nicht mehr in Quantität und Qualität möglich. Doch wie adäquaten Ersatz bzw. Nachfolge finden? Die Latte liegt hoch. Und wahrscheinlich ist sie 1:1 auch nicht zu überspringen.
- Wie kann der Unternehmer und künftige Übergeber seine Identität als Nukleus, als Gravitationsfeld in seine neue Lebensrealität wandeln?
- Als wer will er vor sich selbst gelten?
- In welcher Form könnte seine Kompetenz zunächst weiterhin für das Unternehmen zur Verfügung stehen, einen ähnlichen Nutzen entwickeln und dennoch neuen Verantwortungen nicht im Wege stehen?
- Wie kann seine Leidenschaft des Netzwerkens, gepaart mit einer erfüllenden Wahrnehmung in der Öffentlichkeit anders befriedigt werden?
- Wie kann die essenzielle Aufgabe des Netzwerkens und der Innovation gestaltet werden?
- Wie kann das „Gebraucht-sein“ aufrecht erhalten bleiben, ohne auf wirtschaftliche oder gesellschaftliche Wirkungen abzuzielen?
- Wie kann ein „gebraucht-Sein“ entstehen, das fern von Nutzenaspekten ein freudvolles, befriedigendes Da-Sein ermöglicht? Auch – oder gerade weil! – viele Jahrzehnte einer Realität, einer Sache, einer Form des Daseins gegolten haben. Dies ein Ausdruck von Lebensauffassung von Überzeugungen, von Werten war. Aktuelles trauriges Beispiel für ein (noch) Nicht-Gelingen dieser Kür nach der (selbst auferlegten) Pflicht ist leider Wolfgang Grupp.
Selbstkonstanz des Übergebenden
Selbstkonstanz ist die Fähigkeit ein stabiles und zusammenhängendes Selbstbild aufrechtzuerhalten. Weitgehend unbeeinflusst von Situationen, Emotionen und große – über Zeiträume. „Ich weiß, wer ich bin.“ Ob Erfolg oder Misserfolg, Lob oder Kritik, Anerkennung oder Ablehnung.
- Reiht sich die Übergabe, und wie wir sie gestalten, als „typisch für mein Leben“ in meine Erlebnisse ein?
- Bin ich nicht nur „trotzdem ich“, sondern vielmehr „weil ich eben ich bin“?
- Verhalte ich mich so, wie ich es von mir erwarte?
b) Der Übernehmende
Das Lebenswerk
Durchs Leben als Unternehmer:in gehen zu wollen ist mit einem klaren Statement verbunden. Ist es möglich „zufällig“ Unternehmer:in zu werden und zu bleiben? Es gehört also schon etwas dazu „immer vorne dran“ stehen zu wollen. Die Dinge voran zu treiben. Weitblick und taktisches Geschick zu beweisen. Riskante und weit tragende Entscheidungen für sich und andere zu treffen. Tag für Tag. Und dafür gerade zu stehen mit seinem Namen. Mit seiner sozialen und ökonomischen Existenz. Der gesamte Lebensinhalt ist vom Werden und Sein des Unternehmens beeinflusst, bestimmt und abhängig. Läuft es mit dem Unternehmen gut, ist das in jeglicher Hinsicht vorteilhaft für das private Leben und das Leben selbst. Läuft es schlecht, leidet alles andere mit – egal wie gut es dort stehen mag. Deshalb ist es so unschätzbar wichtig das Privatleben, seine Beziehungen, seine körperliche und mentale Gesundheit und Fitness stets in gutem Zustand zu halten.
- Was muss ich als Unternehmer:in wirklich wissen und können?
- Welche Eigenschaften meiner Persönlichkeit und meines Charakters sind hilfreich als Unternehmer:in?
- Welche Stärken, Interessen und Leidenschaften habe ich?
- Welche davon will ich im Unternehmen wirksam werden lassen, welche außerhalb?
- Welche Schwächen habe ich und was tue ich, damit diese keine Nachteile für mich und das Unternehmen entfalten?
Klarheit über die Motive der Übernahme
Sind wir uns über unsere Motive für einen maßgeblichen Schritt im Leben bewusst, können wir reflektiert Entscheidungen treffen. Das bedeutet, wir können Gefühl und Sache trennen. Meist gibt es mehrere Wege um Lebensziele zu erreichen. Auch Ziele lassen sich auf verschiedene Weise definieren, wenn wir uns über die angestrebte Qualität eines Zielzustandes bewusst sind.
Einen großen Lebensschritt zu tun erfordert ein „Hineinreifen“. Viele Aspekte dieses Reifungsprozesses zeigen sich erst, wenn wir in der neuen Rolle, in den neuen Umständen angekommen sind. Es ist unmöglich alles vorab zu durchdenken oder gar zu erproben. Das muss auch nicht sein. Erkennen wir die Qualitäten in welchen sich angestrebte Zustände offenbaren werden, lässt sich die Kompetenz für das „Hineinreifen“ schulen:
- Wieso will ich Eigentümer:in eines Unternehmens sein?
- Wieso glaube ich dafür geeignet zu sein? Gibt es Belege dafür?
- Was würde mir im Leben fehlen, wenn ich niemals Unternehmer:in werde?
- Wie schlimm wäre das für mich?
- Wieso zum geplanten Zeitpunkt?
- Wer will ich sein für das Unternehmen, die Mitarbeitenden, Kunden, Partner und Lieferanten?
- Welche ganz konkreten Absichten verfolge ich für mich und das Unternehmen damit?
- Welche (geheimen) Wünsche verfolge ich mit der Übernahme?
- Was gilt für mich bis zur Übergabe?
- Was gilt für mich nach der Übergabe?
- Woran will ich erkennen, dass ich in meiner neuen Rolle als „Unternehmer:in“ voll angekommen bin?
- Erfülle ich mit der Übernahme eine Tradition (Erwartungen anderer), der ich mich (gern) beuge?
- Übernehme ich aus Bequemlichkeit aus Ideenlosigkeit, aus Angst vor Verantwortung für mich selbst?
- Übernehme ich aus restloser Leidenschaft und bin unsagbar froh welch glückliche Umstände mich in diese Situation gebracht haben?
Motive sind Bedürfnisse
Nur wenn wir unsere Bedürfnisse kennen, können wir für uns stimmige Entscheidungen treffen. Bedürfnisse sind nicht zu unterschätzen. Unsere psychologischen Grundbedürfnisse sind:
- Bindung (Zugehörigkeit)
- Orientierung und Kontrolle
- Lustgewinn und Unlustvermeidung
- Selbstwerterhöhung und -schutz
- Kohärenz (= Sinn)
Darüber hinaus haben wir noch individuelle und spezifische Bedürfnisse. Natürlich können wir viele davon auch ignorieren, verdrängen, bis zur Unkenntlichkeit verzerren oder „Fata Morganas“ nachlaufen. Sind sie jedoch echt, entspringen also unserer tief in uns verwurzelten Auffassung eines für uns gelungenen Lebens, werden sie sich immer irgendwie und irgendwann Bahn brechen. Und sei es durch Krankheit (Psychosomatik) oder immer wieder scheiternde Anstrengungen.
Ist das Unternehmer:in-Sein ein Mittel, um meine Bedürfnisse zu befriedigen?
Strebe ich mit diesem lebensverändernden Schritt nach einem tief verwurzelten „Lebensglück“ (Eudaimonia: Werteglück, das erfüllte Leben) oder sind hedonische Bedürfnisse und das „Wohlfühlglück“ der Motivator? Dazu zählen auch „falsche Wünsche“. Das sind vermeintliche Wünsche, die wir vorwiegend aufgrund sozialer Erwünschtheit haben. Entlarven können wir sie durch die Frage: „Würde ich es auch tun/haben wollen, wenn ich nie jemandem davon berichten/mich nie jemand damit sehen könnte?“
Wichtig: strategische und distanzierte Haltung
Zeit des Unternehmerseins sollte immer wieder eine emotional distanzierte Haltung eingenommen werden. Erst mit (emotionalem) Abstand können wir so manches überhaupt erst wahrnehmen und es sachlich einordnen. Leidenschaft ist wichtig für den Drive, die Motivation über Durststrecken hinweg, über das beständige Anpacken und „nach vorne Denken“, die Energie für den taktisch entscheidende Momente. Sachlichkeit verhilft uns notwendige, strategisch sinnvolle und nachhaltige Schritte zu gehen:
- Würde ich das Unternehmen auch übernehmen, wenn ich es nicht schon „mein ganzes Leben kennen“ würde?
- Was müsste das Unternehmen und der Nachfolgeprozess erfüllen, wenn es sich um ein fremdes Unternehmen handeln würde?
- Worauf würde ich da besonders achten?
- Was würde ich nicht akzeptieren?
- Was fehlt dem Unternehmen?
- Was würde ich sofort nach Übergabe unmittelbar anpacken und wieso?
Die wichtige Haltung der (Selbst-)Beobachtung (Metaposition) ist immer wieder zu schulen und bewusst einzunehmen. Manche haben das „im Blut“, andere tun sich nachhaltig sehr schwer damit. Insbesondere, diese Haltung für eine angemessene Zeit aufrecht zu erhalten.
- Wie kann ich es für mich immer wieder schaffen, eine distanzierte, eine strategische Haltung einzunehmen?
- Was hilft mir, mich immer wieder zu erinnern, aus welcher Rolle heraus ich Entscheidungen vorzubereiten und zu treffen habe?
- Welche innere Haltung hilft mir meinen Tag „wie ein/e gestandene/r Unternehmer:in“ zu leben?
- Gibt es Orte, Zeiten oder Rituale, die mich dabei besonders gut unterstützen?
- Gibt es Menschen, die mich dabei unterstützen können?
- Welche Eigenschaften müssen diese Menschen mitbringen?
Der Übernehmende ist sich bewusst:
- Ab einem bestimmten Punkt ist der Übernahmeprozess erstmal unumkehrbar oder nur mit großem Aufwand zu verändern. Selbst wenn dies gelingt, ist mit erheblichen emotionalen Schäden bei Beteiligten zu rechnen.
- Es wird zu „Entdeckungen“ kommen, die als Schwächen/Fehler/Nachteil/Blinde Flecken/Nachlässigkeit des Übergebenden interpretiert werden können. Der Übernehmende hat diese in keinem Fall zu bewerten oder gar gegen den Übernehmenden zu verwenden.
- Es werden Vorgehensweise, Prozesse, Strukturen, Werte verändert oder anders gelebt werden. Das hat jeweils strategische Gründe.
- Es kann an mancher Stelle im Unternehmen oder bei einzelnen Personen zu einem wahren „Aufblühen“ kommen. Gleichzeitig kann Ärger oder gar Frust an anderer Stelle entstehen.
- Was immer funktioniert hat, funktioniert plötzlich nicht (mehr) so.
- Was nie funktioniert hat, funktioniert plötzlich (irgendwie).
- Die Unternehmerischen Interessen, die Interessen der Rolle als Unternehmer:in des Übergebenden werden irgendwann nicht mehr berücksichtigt. Es ist ein klarer Schlussstrich zu ziehen. Die Informationstiefe, offiziell oder inoffiziell, wird vereinbart. Das ist aus Selbstschutz und aus Schutz des Übergebenden einzuhalten.
- Die Kräfte sind für die Weiterführung, Weiterentwicklung und das in jedem Fall eintretende Unerwartete zu schonen. Eitelkeiten, Rosenkriege sind unerhörter Luxus (siehe Konfliktvorbeugung unten).
Das „Hin-zu“ ist die wichtigste Zugkraft
Wir brauchen eine „Vorstellung“ von uns in der Zukunft. Wie vage sie auch immer sein mag. Ja, es ist sogar sehr wertvoll, wenn wir eher eine bestimmte Qualität unserer Zukunft anstreben als ein zu konkretes Ziel zu verfolgen. Zu konkret wissen wie wir wer werden und sein wollen. Das Leben ist Vielfalt und beeinflusst uns. Der Welt unsere Antworten zu geben ist wesentlich für unser Werden. Für unser Hinein-Reifen in das Neue, das Verheißungsvolle, das was noch niemals geboren wurde. Weil es in uns schlummert. Einmalig.
- Ist Unternehmer-Sein für mich Ausdruck meiner selbstverständlichen Lebensgewissheit (Ich bin)?
- Welche Träume erfüllen sich für mich, wenn ich Unternehmer:in bin?
- Was möchte ich für mich/für andere/die Welt erreichen?
- Was gilt dann für mich, wenn ich Unternehmer:in bin?
- Wie sehe ich mich bereits jetzt, wenn ich dann mal Unternehmer:in bin?
- Wenn die Übernahme in diesem Unternehmen nicht gelingt, was tue ich dann?
Das „Weg-von“ ist die wichtigste Schubkraft
Die Zeit ist reif für das Neue. Das Bisherige überlebt sich zunehmend. Doch ist es auch Voraussetzung für das Neue. Aus dem Werden in die bestehende Form entsteht die Voraussetzung für die Reife die neue Ausprägung lebendig werden zu lassen. Erst der selbst beschrittene Weg macht uns reif für das Ziel. Das Ziel ist Wegmarke und wieder Voraussetzung für das nächste Ziel, das sich bereits im Erreichen des vorherigen Ziels zu entwickeln beginnt: Nach dem Ziel ist vor dem Ziel. Ein unablässiger Prozess, dessen eigentlicher Sinn Reifung ist. Reifung zu dem, was in uns schlummert und zu Tage treten kann, wenn wir es erlauben und die Voraussetzung für sein Erblühen schaffen. Ein ewiges „stirb und werde“. Schaffen. Also anpacken. Nachdem wir etwas erkannt oder erspürt haben. Zulassen. Ausdauer entwickeln. Rückschläge nutzen.
Deshalb ist es wichtig, von etwas die „Schnauze voll“ zu haben (psychische Sättigung). Sich nicht (mehr) zu sehen, zu identifizieren mit Rollen und Aufgaben:
- Von was versuche ich mit dem Unternehmer-/Inhaber-/Chef:in-Sein los zu kommen?
- Wie froh bin ich darüber?
- Könnte ich auch auf andere Weise davon loskommen?
- Was gilt dann nicht mehr?
- Wer bin ich dann nicht mehr (vor mir selbst)?
Selbstkonstanz des Übernehmenden
Eine Selbstkonstanz, die den Unbilden genauso wie den Höhenflügen des Lebens trotzt, ist eine fortwährende Aufgabe. Ein gehöriger Teil davon ist uns mit dem Urvertrauen hoffentlich bereits in die Wiege gelegt worden. Doch haben wir selbst erheblich Anteil daran wie wir uns selbst wahrnehmen. Gerade in Zeiten deutlicher Emotionen, seien sie positiv oder negativ. Das „Bild vom/der Unternehmer:in“ mit dem entsprechenden Alltag, sollte schon eine Passung haben zum Bild von uns selbst. Die „Feuertaufe“ ist der Nachfolgeprozess:
- Verhalte ich mich schon so, wie ich es von mir erwarte?
- Kann diese Metamorphose zum/r Unternehmer:in als ein weiteres Beispiel für den „typischen Umgang mit mir selbst“ dienen?
c) Codex für den Übergabeprozess
Für jedes Unternehmen ist ein Codex (Werte) von unschätzbarem Wert. Denn es kann als sehr wirksames Führungsinstrument große Wirkung entfalten. Gerade in besonderen Situationen. Hier müssen einfach alle Beteiligten wissen, worauf sie sich in jedem Fall verlassen können. Andernfalls entstehen überbordende Absicherungen nach allen Seiten, gefolgt von Schuldzuweisungen bei Fehlern, dem zur Folge passieren keine Fehler mehr, Entscheidungen werden verschleppt, Gerüchte und handfeste Intrigen entstehen. Mit bewusst gemachten und schriftlich formulierten Werten zu arbeiten, ist für jede zielorientierte Gemeinschaft ein äußerst wertvolles Führungsinstrument. So auch für jede Unternehmerfamilie. In vielen Unternehmen gibt es formulierte und für jeden zugängliche Werte. Leider entwickeln die meisten Führungskräfte und zuständige Abteilungen kein Bewusstsein und keine Kompetenz diese als Instrumente der Führung wirksam einzusetzen. Sie bleiben als abstrakte, meist als fremd empfundene und „aufgesetzte“ Normen abgelehnt und ungenutzt. Schade. Denn häufig wird viel Zeit und Geld in die Hand genommen, um sie zu formulieren. Diesem traurigen Beispiel folgen die meisten Führungsmethoden. Denn meist werden sie lediglich auf der ersten Wirkungsebene angewendet. Ein tieferes Verständnis für tiefgreifender Wirksamkeit wird nicht entwickelt. Deshalb verlieren viele Führungskräfte die Lust daran, vergessen sie wieder, fühlen sich weiterhin unsicher und rufen nach neuen Methoden…
Ein Übergabeprozess ist zunächst ein erstmaliges und vielleicht sogar nie wieder vorkommendes Ereignis im Unternehmen. Er ist im Moment die einzig relevante Realität. Sie gilt es zu meistern. Was ist es wert, dass dies gelingt? Sehr sehr viel, oder? In Geld ist das schwierig zu bemessen und auch nicht relevant, denn es geht um weit mehr als um Geld. Das wertvollste Investment in einen Übergabeprozess ist Zeit, Herzblut, Hirnschmalz und Reifung (Reflexions- und Veränderungsfähigkeit). Es steht äußerst viel auf dem Spiel. Verbindlichkeit und Konsequenz sind das alles Entscheidende. Weshalb also Verbindlichkeit und Konsequenz nicht vorab formulieren? Sich nach bestem Wissen und Gewissen daran halten und gemeinsam immer wieder reflektieren:
- Wie geht es mir mit unseren Werten?
- Wie gelingt es mir, mich an sie zu halten? Gerade in Schwierigkeiten!
- Wie erlebe ich den/die anderen dabei?
- Was wurde mir zugetragen und wie gehen wir damit um?
- Brauche wir Anpassungen? Wozu sollen uns diese verhelfen?
Jeder Codex, jeder Wertekatalog ist nur so gut wie seine Umsetzung, sein Ausleben im Alltag. Gerade in schwierigen Situationen. Er ist nur so gut wie seine Lebendigkeit, wie er reflektiert und auch angepasst wird. Denn nicht nur der Übergabeprozess schreitet jeden Tag unaufhaltsam voran. Äußere Einflüsse und allein die lebenstypische Veränderung jedes Einzelnen Involvierten beeinflussen das Miteinander laufend.
d) Beispiel aus einer letztlich gescheiterten Unternehmensnachfolge
Eigentümer und Übernehmer vereinbaren gemeinsam Aufgabenverantwortungen mit gleitenden Übergängen und Verhalten. Besonders in Schwierigkeiten, Unstimmigkeiten, bei Fehlern usw. Der Übergeber gibt sich sehr freigiebig und unterstützend. Er sieht im Übernehmer eine ideal Wahl: Entwicklung vom Lehrling bis zum Meister im Betrieb, fähiger, ambitionierter junger Mann mit Herz und Verstand.
Der Übernehmer ist im Übergabeprozess hochgradig engagiert, ausdauernd und sehr lernwillig. Auch begegnet er dem Eigentümer auf Augenhöhe und scheut kein offenes Wort. Er hegt den Wunsch ein eigenes Unternehmen zu haben und sieht in der Übernahme eine ideale Möglichkeit, da er Mitarbeitende und Kunden seit Jahren kennt, bei allen anerkannt und sehr geschätzt ist und sich im Unternehmen immer sehr wohl gefühlt hat. Zum Eigentümer und dessen Familie besteht ein sehr gutes, eher schon familiäres Verhältnis (gefühlter „Ziehsohn“).
Letztlich scheitert die Übergabe: Der Eigentümer „hilft“ immer wieder, indem er dem Übernehmer immer wieder „Aufgaben abnimmt, weil der doch so im Stress ist“ oder „Sachen liegen bleiben, die unbedingt erledigt gehören“.
Der Übernehmer verzweifelt daran: „will mich am Abend darum kümmern und sehe, dass es schon gemacht ist, doch nicht auf die vereinbarte neue Weise, sondern so, wie es immer schon gemacht wurde“ und „ich komme gar nicht in den Tritt, wenn mir immer hinein regiert wird, es hat seinen Grund, weshalb ich Sachen auf eine bestimmte Weise mache“.
Der Übergeber ist uneinsichtig und fühlt sich mißverstanden, da er „es nur gut meint und helfen will“. Letztlich entdeckt der Übernehmer noch „Lasten“ im Unternehmen die er trotz der guten und (sehr zu seinen Gunsten ausgereizten) Übernahmebedingungen nicht zu tragen bereit ist und kündigt. Der Übergeber hat sich zu keinem Zeitpunkt selbst begleiten/coachen lassen.
Es war der zweite gescheiterte Übergabe innerhalb weniger Jahre. Das Unternehmen wurde zwei Jahre später, nach einer gescheiterten dritten Übergabe, aufgelöst. Der Unternehmer war bei der ersten gescheiterten Übergabe bereits Ende 60 und stark motiviert, da er sehr konkrete Vorstellungen und Vorhaben für seinen Ruhestand hatte.