Angst und Angst-Bewältigung. Angst ist immer Fantasie. Die zwei Ebenen der Angst.

Ein Kunde, Unternehmer seit zwei Jahrzehnten, satte Auftragslage, keine gravierenden Probleme, grübelt: „Wie sich gerade Wirtschaft, Politik und Gesellschaft verändern, das macht mir Angst.”
Mit der Angst ist es so ein doppelbödiges Ding. Oftmals nehmen wir Angst überhaupt nicht als solche wahr. Ja, wir meinen sogar, angstfrei zu sein. Doch dann tarnt sie sich nur umso besser.

Ohne Angst und Angstbewältigung oberflächlich und zu kurz abzuhandeln, finde ich folgendes Zwei-Ebenen-Modell sehr hilfreich, um sich den Angst-Ursachen auf kognitive – und vielleicht sogar schon emotionale bzw. teilbewusste – Weise zu nähern.

Die zwei Ebenen der Angst sind:
1. Angst-Ebene: Ungewissheit bzw. Unwissenheit
2. Angst-Ebene: Fantasie

Außerdem erfährst Du anschließend, wie sich versteckte Ängste zeigen.

1. Angst-Ebene: Ungewissheit bzw. Unwissenheit

Was wir nicht kennen, macht uns Angst. Was wir uns nicht erklären können, macht uns Angst. Heute sind es die Überschriften Digitalisierung, Künstliche Intelligenz, Disruption, Radikalisierung, Ökologie, Klimawandel usw.
Doch was bedeuten diese Dinge im Einzelnen für jeden Einzelnen? Keiner weiß es. Keiner kann es herleiten. Alle Prognosen sind Möglichkeiten und keine Gewissheiten. Und genau das macht Angst. Nicht die Tatsache, dass sich etwas ändert. Weil wir wissen, jede Änderung hat neben Schatten- auch Sonnenseiten. Da wir nicht wissen, was kommt, konzentriert sich unser Gehirn auf die Gefahren, damit wir Strategien entwickeln, um uns vor diesen zu schützen. Doch was, wenn wir nicht wissen, welche Gefahren überhaupt daherkommen? Und wann? Dann sind wir das Kaninchen vor der Schlange, das sich seiner Situation handlungsunfähig ausgeliefert sieht.
Das allein ist der Nährboden für Angst.

Beispiel
Wir sitzen in einem Verkehrsmittel. Durch irgend ein Ereignis, gibt es eine Verzögerung wie z.B. Stau. Hören wir nun im Radio oder die Durchsage, in zehn Minuten geht es weiter, entspannen wir uns ziemlich rasch. Vielleicht kalkulieren wir schnell, ob wir zu spät kommen oder die Anschlussverbindung noch erreichen. Doch das war´s im Grunde schon. Sich ärgern hilft ja eh nicht. Bleibt aber diese Information aus und wir erfahren nicht, wann es weitergeht, sitzen wir wie auf glühenden Kohlen. Die Minuten dehnen sich zu gefühlten Stunden. Auch wenn es nach zehn Minuten weitergeht, haben wir das Gefühl, ewig gewartet zu haben.

Der einzige Unterschied zwischen Angst-haben und Angst-Freiheit ist auf der ersten Ebene also lediglich die Ungewissheit bzw. Unwissenheit oder Gewissheit bzw. Wissen.

2. Angst-Ebene: Fantasie

Die Unwissenheit ist der optimale Nährboden für Fantasie. Unsere Fantasie will uns schützen und spannt uns deshalb zugleich auf die Folter. Unsere Fantasie lässt uns alle möglichen Szenarien durchspielen. Je mehr oder je krasser diese Szenarien sind, desto mehr verunsichert uns das. Desto mehr Angst haben wir.

Beispiel
Im letzten Winter stieg ich mit Skiern eine steile Schneerinne hinauf. Erst viel zu spät erkannte ich die verborgene Gefahr: An einer Stelle brach ich bis zur Hüfte ein und erkannte, wie leicht der Hang abreißen konnte. Aus einem sonnendurchfluteten Traumtag wurde, selbst verschuldet, ein Tanz auf der Rasierklinge. Ui, ging mir da die Muffe! Hier, mutterseelenallein auf weiter Flur in eine Lawine zu kommen, ist der sichere Tod. Oder eine Lösung finden: Ich verließ die Rinne über eine leichte Kletterei über die Randfelsen, die Skier am Rucksack.
Im Moment der Entscheidung: „Jetzt musst Du was tun, Jörgi, sonst ist es aus.”, war ich völlig angstfrei. Abwägend zwischen 1. Einfach weitergehen, 2. Am Rand weitergehen, 3. Abfahren und 4. Hinausklettern spürte ich die Klarheit nach einer Entscheidung in mir die Oberhand gewinnen. Jetzt war ich völlig bewusst, im Moment und ich entschied. Mit der Entscheidung erzeugte jede meiner Fasern in Mikrobewegungen und nach außen sichtbar Schritt für Schritt, die Lösung. Jeder Handgriff saß wie am Schnürchen. Wie tausendmal erprobt. Gefühlt eine Ewigkeit, doch wahrscheinlich nur wenige Momente später, hatte ich unter allen vier Gliedern griffigen Fels. Das Schneefeld konnte mir nichts mehr anhaben.
Aus Unwissenheit (Hält der Hang?), die meine Fantasie beflügelte (Lawine begräbt mich!), entstand Angst (Ich kann jeden Moment sterben!). Allein durch meine Entscheidung zur Handlung, wandelte sich die Angst in Bewegungen. Die Bewegungen brachten mich aus der Gefahr. Weiter Angst zu haben oder neue Angst zu bekommen, war nicht nötig (Unerreichbar für eine Lawine. Leichte Kletterei.).

Der einzige Unterschied zwischen Angst-haben und Angst-Freiheit ist auf der zweiten Ebene lediglich die Fantasie, die viele Szenarien erfindet. Würden wir unsere Fantasie unterbinden, hätten wir auch keine Angst.

Unsere Fantasie speist sich aus Vergangenheit und Wunsch-Zukunft

Vergangenheit
Wir haben (hoffentlich) viel gelernt und (nochmal hoffentlich) viele unterschiedliche Erfahrungen gemacht. Diese Erfahrungen können unsere Lern- und Entscheidungskompetenz bereichern und auch einschränken. Je nachdem, welche Haltung wir im Hier und Jetzt einnehmen.

Wunsch-Zukunft
Zudem haben wir eine mehr oder weniger bewusste Vorstellung, wie unsere Zukunft aussehen soll. Wir wollen heute alles so gut wie möglich machen, um diese Zukunft zu erreichen. Auch Ziele und Pläne zu haben, kann unsere Haltung für das Hier und Jetzt bereichern oder einschränken.

So funktioniert relative Angstfreiheit

Sind wir in Gedanken in der Vergangenheit oder in der Zukunft, ist es für unser Gehirn sehr leicht, zu fantasieren und Angst zu erzeugen. Relative Angstfreiheit (denn wir können nie ganz angstfrei werden) entsteht, wenn wir vollständig im Bewusstsein des Augenblicks sind. Wenn wir vollständig präsent sind in Taten und Gedanken, dann schließen sich Fantasien und damit Ängste und Sorgen (die Ängste sind) aus. So bald wir im Hier und Jetzt sind, wird uns das Gestalten unseres Seins mit jeder Mikrohandlung von Körper und Geist bewusst. Und genau dann ist es uns gar nicht möglich bewusst Angst zu haben. Wir erleben, wie wir gestalten und gleichzeitig sich die Dinge fügen. Dann haben wir letztlich auch keine Angst vor Fehlern oder gar Schicksalsschlägen. Denn sollten sie eintreten – was wir im Moment des Tuns ja noch gar nicht wissen können – wissen wir, egal, was passieren wird, wir werden dann Lösungen finden.

Angst ist Fantasie.

Das hört sich sehr einfach an!

Ja, das klingt einfach. Und ist doch schwer. Ein Weg in die relative Angstfreiheit ist die Gelassenheit. Was nicht heißt, dass wir alles mit uns geschehen lassen. Echte Gelassenheit ist stetiges Tun am Wesentlichen und greift den Moment vorurteilsfrei beim Schopf.
Auch der Angstschauer, der uns bei jedem Kontakt mit einem Hund an einen früheren Biß erinnert, ist ein Fantasieprodukt. Denn woher wollen wir denn diesmal wissen, ob wir wieder gebissen werden?

Versteckte Angst zeigt sich, wenn wir:
  • aus Mücken Elefanten machen
  • die Wahrheit zu unseren Gunsten beugen (un-, teil- oder bewusstes Lügen)
  • Angeben, Prahlen
  • Stigmatisieren, Schubladisieren
  • Herabsetzen
  • Idolen nacheifern
  • Entwicklungen aktiv beschleunigen oder verzögern (wollen).
  • Permanent in Gedanken an Zukünftigem oder Vergangenem hängen
  • sagen: „Das sehe ich schon kommen…”, „Das haben wir schon immer/ noch nie so gemacht.”, „Das funktioniert eh nicht.”, „Das kannst Du nicht.”
    usw.
Beispiel Flugangst

Die Flugangst bietet sich vortrefflich an, um die Ebenen der Angst, sowie versteckte Ängste zu zeigen. Denn faktisch ist es völlig abwegig, vor dem Fliegen Angst zu haben. Trotzdem ist die Angst vorm Fliegen ziemlich verbreitet.

1. Angst-Ebene: Ungewissheit bzw. Unwissenheit
Es ist uns nicht ganz einfach verständlich, wie so ein Koloss mit all den Menschen und Gepäck an Bord überhaupt vom Boden abheben kann. Fliegen und hunderte Tonnen Gewicht, sind zwei Welten, die nicht zueinander zu passen scheinen. Außerdem wissen wir nicht, wie gut die Piloten mit Gefahren umgehen können, ob die Technik hält oder ob äußere Gefahren wie Gewitter bzw. Stürme eintreten.

2. Angst-Ebene: Fantasie
Flugzeugabstürze sind meist auf ziemlich rabiate Weise das Ende vieler, wenn nicht gar aller Fliegenden. Diese Brutalität, die unseren Körper im Falle des Falles bis zu Unkenntlichkeit zerstören oder gar unauffindbar macht, ist uns nicht begreiflich und widerspricht all unseren Hoffnungen auf einen würdevollen Tod mit allen Ritualen der Bestattung. Ja, sogar an die Vergänglichkeit selbst.

Dahinter verbirgt sich die Angst vor Kontrollverlust
Im Flugzeug geben wir die Kontrolle über unseren Körper in die Hand der Crew, der Flugzeugtechnik, dem Flughafenpersonal und Umwelteinflüssen. Wir legen uns also höchst bewusst erlebbar in die Hände anderer. Merkwürdigerweise haben wir am Steuer unseres eigenen Autos keine Angst. Obwohl die Fahrt mit dem Auto zum Flughafen der weitaus gefährlichste Teil unserer Reise ist.
Statistisch gesehen stirbt es sich im Auto 53 mal leichter als im Zug. Im Auto verletzten wir uns zudem zu 124 mal häufiger. Die Fliegerei ist ähnlich sicher wie das Bahnfahren.
Das bedeutet: Wir selbst sind für uns im Auto 124 mal verletzungsreicher und 53 mal tödlicher, als das System Flugzeug.

Eine Ebene tiefer:
Vielleicht nutzen wir das Vehikel Flugangst um auszudrücken, wie sehr wir uns im Verborgenen davor fürchten, „den Boden unter den Füßen zu verlieren”, „Abzuheben”, „Über den Wolken (muss die Freiheit wohl grenzenlos) sein”, „Auf unbegreifbar leichte und schnelle Weise gigantische Strecken zu überwinden” usw.?
Vielleicht fühlen wir uns nicht so geerdet, wie wir es gerne hätten und können uns deshalb dem „Fliegen” (im Sinne von „den eigenen Weg gehen”, „Erwartungen anderer nicht entsprechen”, „Schicksal” usw.) nicht hingeben?
Vielleicht fühlen wir uns sogar entwurzelt und noch nicht angekommen im eigenen Leben und der Aufbruch zu neuen Ufern überfordert uns?

Im Hier und Jetzt Sein ist kein Selbstzweck, um lediglich zu entspannen.

Sind wir im Hier und Jetzt, erklären wir uns mit unserer aktuellen Situation, allen Umständen und allem was da auch immer kommen mag einverstanden. Für den Moment. Um im nächsten Moment zu entscheiden und aktiv zu handeln, wie wir diese Situation gestalten.
Unbewusst gestalten wir ohnehin in Richtung unserer (wahren) Ziele.

Interessiert Dich das Thema Angst näher, dann empfehle ich Dir den Angst-Klassiker „Grundformen der Angst” von Fritz Riemann (Link zu amazon).

Gute Zeit & Beste Grüße!

Jörg Romstötter

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Meine Hilfestellungen zur Selbstführung und damit zur Führung anderer, erscheinen nicht immer leicht in ihrer Umsetzung. Wobei sie sich gerne offenkundig plausibel, „einfach” und eingängig lesen. Diese Vorgehensweisen werden in ihrer Umsetzung sowohl als äußerst einfach und äußerst schwierig empfunden. Je nachdem, welche Qualität innere „Arbeit” jemand schon mit sich angestellt hat. Selbstführung beginnt mit der Selbst-Begegnung. Ohne sie ist jede erlernte Vorgehensweise lediglich vordergründiges Tun und funktioniert nur rudimentär: Wir werden als „Tool-Anwender” entlarvt.

Selbst-Begegnung ist ein Stufenprozess: Wer eine „Stufe” erreicht hat, sieht sich unmittelbar mit der nächsten konfrontiert. Wer keine „Stufen” erkennt, ist nicht etwas schon „angekommen” oder gar „fertig”. Der sieht lediglich (unbewusst) von der nächsten Stufe weg. Was natürlich auch völlig ok ist.

Eine der wirksamsten Möglichkeiten zur Selbst-Begegnung und gleichzeitig zur Selbstführung ist seit jeher die Natur. Und dabei im Besonderen das Alleinsein draußen. Sich selbst ein wenig zuhören inmitten der weitenden, klärenden, stärkenden und erdenden Natur, ist ein ganz besonderes Geschenk. Ich wünsche Dir und mir den Mut, dass wir uns dieses Geschenk immer wieder machen.