Jedes Feedback ist Selbstoffenbarung. So sagt man. Ja sogar jegliche Äußerung, ob mündlich, haptisch, schriftlich usw. ist es. Und obwohl wir es oft erleben, dass Menschen ihre Ansichten sogar lauthals herausschreien, hören sie doch ihre eigenen Worte nicht.
Seit der Corona-Sache kursieren Zuschreibungen und Worthülsen wie „Lügenpresse”, „Schlafschafe”, „Verschwörungsideologe” usw. besonders stark. Doch auch fernab von Politik und Weltanschauung befleißigen wir uns im (Berufs-)Alltag nur allzu gerne pikanter Titel wie „Schnarchnase”, „Prinzipienreiter”, „Erbsenzähler”, „Bürokrat”, „Nerd”, „Esotante” usw. Diese Zuschreibungen sind, wie könnte es anders sein, im engeren Sinne niemals „richtig”.
Wir können nur wahrnehmen, was in uns eine Resonanz erzeugt
Wir können nur als besonders auffällig wahrnehmen, was in uns eine gesteigerte Aufmerksamkeit erzeugen lässt. Selektive Wahrnehmung nennen wir dies. Bewusst oder Unbewusst. Was uns interessiert und gewissen Selektionsmustern folgt, nehmen wir überdeutlich wahr. Das ist wohl ein uraltes Jäger- und Sammler-Ding, das du sicher schon aus Erfahrung kennst. Suche mal in deiner Wohnung etwas. Du nimmst quasi nichts mehr um dich herum wahr, obwohl du vom Keller bis zum Dach alles durchwühlst. Du sucht nach einer ganz bestimmten Farbe oder Form. Eben die des gesuchten Objektes.
Wir nehmen nur wahr, was wir
- suchen (bewusst, teilbewusst, unbewusst). Wie gerade im Beispiel genannt.
- bewältigt haben
- bei uns selbst ablehnen
Zu 2. Wir nehmen nur wahr, was wir bewältigt haben
Beispiel: Jemand sagte früher bei Vorträgen und Meetings in Ausbildung oder Team ständig „Äh”. Diese Wirkungsbremse hat ihm dann einmal jemand als Feedback geschenkt oder der Betroffene hatte sich ein Video von einer seiner Darbietungen angesehen. Nun fällt es ihm bei anderen auf, sobald sie häufig „Ähs” sagen. Dies deshalb, weil er sich diese Fähigkeit bewusst beigebracht hat. Zuvor hatte er es bei sich selbst nicht wahrgenommen, obwohl er ganz genau gehört hatte was er sagte. Er konnte es nicht, weil es ihm nicht bewusst war. „Ähs” sind von seinem Mustererkennungssystem nicht identifiziert worden.
Zu 3. Wir nehmen nur wahr, was wir bei uns selbst ablehnen
Bringt uns ein Verhalten bei jemand anderem in Wallung, spricht es uns offensichtlich emotional an. Sonst würden wir ja nicht hochgehen. Was uns hochgehen lässt, lehnen wir bei uns selbst ab, können es jedoch nicht wahrnehmen, weil es unbewusst ist (Selbstoffenbarung). Weil wir es ablehnen und nicht damit klar kommen, wollen wir es bekämpfen. Da wir nicht erkennen können, dass das Abgelehnte in uns selbst ist, erkennen wir den abgelehnten Anteil in anderen (Projektion). Diese greifen wir an, weil wir das Abgelehnte nun angreifen können. In uns können wir es nicht angreifen. Wir könnten es in uns bewältigen, indem wir es als unseren eigenen Anteil akzeptieren und uns mit dieser Tatsache aussöhnen. Uns trotzdem – oder besser – gerade deshalb annehmen und lieben lernen.
Urplötzlich bringt uns dann das Verhalten anderer nicht mehr in Wallung, obwohl die ihr Verhalten überhaupt nicht geändert haben. Erstaunlich nicht?! Ich habe das schon sehr viele Male bei mir selbst beobachtet. Wir können andere nicht verändern. Wir können uns selbst verändern. Dann verändert sich die Welt spielerisch. Zwar nicht von heute auf morgen, doch stetig…
Jetzt greife ich mir bewusst das Wort „Lügenpresse” heraus, weil es so schön in die Zeit passt.
Jeder der etwas schreibt, fotografiert, filmt oder spricht, sagt dies aus seiner individuellen Wahrnehmung heraus. Gepaart mit den Werten seines Auftraggebers/Arbeitgebers. Es gibt keine „neutrale” Berichterstattung. Die hat es noch nie gegeben und die wird es niemals geben. Mancher mag sich von der Presse enttäuscht fühlen, doch dann ist es wohl eher eine Aufdeckung seiner Täuschung, die er seiner eigenen selektiven Wahrnehmung und konstruierten Wirklichkeit zuzuschreiben hat, als ein Aufdecken von aktiv gesteuerter Manipulation. Schließlich darf sich jeder selbst zum mündigen Bürger machen, Nachrichten aus aller Welt aufstöbern und sich ein Bild der Lage machen. Schimpft jemand aufgebracht (siehe „Zu 3.”) über Medien, könnte es nicht sein, dass dieser es mit der Recherche von Fakten selbst nicht so genau nimmt, sich schont und lieber Meinungen anderer folgt?
Die Macht der Situation bewerten wir regelmäßig viel zu gering
Identisch verhält es sich mit den anderen oben genannten Zuschreibungen und Worthülsen. Niemand IST ein Erbsenzähler. Nein, er verhält sich in einer gewissen Situation nur sehr genau. Kennst du den „Erbsenzähler” in all seinen Ausprägungen: in der Familie, unter Freunden, in einem anderen Team oder gar Unternehmen? Eben.
Ich weiß, wir reden so. Wir schreiben Menschen Attribute zu, die wir aus der Erfahrung in einem ganz bestimmten Kontext, in einer ganz bestimmten Situation mit ihnen machen (Attributionsfehler). Ok, das tun wir, weil es einfach ist. Doch bedenke: Du BIST auch nicht so und so. Nein. Du zeigst dich auch in unterschiedlichen Situationen unterschiedlich. Drum sollten wir anderen gönnen, was wir uns selbst gönnen: „XY verhält sich im Team wie ein Erbsenzähler.”
Nun, charmant und wertschätzend ist das auch noch nicht ausgedrückt. Wer sich selbst nicht wertschätzt, kann andere auch nicht wertschätzen.
Drum: „XY ist unser genauer Kontrolleur im Team. Ihm entgeht nichts. Hätten wir ihn nicht, wären viele Fehler zu spät entdeckt worden. Gut, das macht uns bisweilen langsam. Doch das haben wir miteinander geklärt. Jeder kennt seine Rolle. Er hält sich mittlerweile eh zurück, um den Fortschritt nicht zu gefährden.”
Wieso tut er das? Wohl, weil er in seiner Fähigkeit gesehen wird und Anerkennung erhält. Er braucht es nicht mehr auf die Spitze zu treiben mit seinen Erbsen. Und du? Hast vielleicht mal hingesehen und erkannt, dass du auch ein „verdammter Erbsenzähler” sein kannst. Denn wieso geht es dir nicht schnell genug im Team? Vielleicht weil es exakt, aber ganz exakt, genau so laufen muss, wie du dir es vorstellst? 😉
Nix für ungut!
Gute Zeit & Viele Grüße!
Jörg Romstötter
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Meine Hilfestellungen zur Selbstführung und damit zur Führung anderer, erscheinen nicht immer leicht in ihrer Umsetzung. Wobei sie sich gerne offenkundig plausibel, „einfach” und eingängig lesen. Diese Vorgehensweisen, werden in ihrer Umsetzung sowohl als äußerst einfach und äußerst schwierig empfunden. Je nachdem, welche Qualität innere „Arbeit” jemand schon mit sich angestellt hat. Selbstführung beginnt mit der Selbst-Begegnung. Ohne sie ist jede erlernte Vorgehensweise lediglich vordergründiges Tun und funktioniert nur rudimentär: Wir werden als „Tool-Anwender” entlarvt.
Selbst-Begegnung ist ein Stufenprozess: Wer eine „Stufe” erreicht hat, sieht sich unmittelbar mit der nächsten konfrontiert. Wer keine „Stufen” erkennt, ist nicht etwas schon „angekommen” oder gar „fertig”. Der sieht lediglich (unbewusst) von der nächsten Stufe weg. Was natürlich auch völlig ok ist.
Eine der wirksamsten Möglichkeiten zur Selbst-Begegnung und gleichzeitig zur Selbstführung ist seit jeher die Natur. Und dabei im Besonderen das Alleinsein draußen. Sich selbst ein wenig zuhören inmitten der weitenden, klärenden, stärkenden und erdenden Natur, ist ein ganz besonderes Geschenk. Ich wünsche Dir und mir den Mut, dass wir uns dieses Geschenk immer wieder machen.