Rebellion: die Lust dagegen zu sein gibt Lebenssinn

Seit 20 Jahren fährt er diese tollen Schlitten. Firmenwagen. Volle Privatnutzung. Ha, seinen Sohn hat er auch schon oft fahren lassen, obwohl das nicht erlaubt ist. Egal, was soll´s. Wenn was passiert, wird man schon ein Auge zudrücken. So engagiert wie er immer ist. Weiß ja keiner, dass er jede Woche sicher vier Stunden der Arbeitszeit für die Organisation seiner Vereinsaktivitäten nutzt. Die hunderte Seiten Ausdrucke für den Verein fallen bei der täglichen Menge an Ausdrucken ohnehin nicht auf. Letztens war er mit einem Freund essen. Hat er als Geschäftsessen abgerechnet. Kann keiner nachprüfen, das Finanzamt sowieso nicht. Freitags Homeoffice? Klar, er ist erreichbar wenn ihn jemand braucht. Aber aktiv arbeiten? Sicher nicht. Er achtet darauf, bis zum frühen Nachmittag im Haus zu bleiben, damit es kein Gerede gibt. Eine Straße weiter wohnt ein Kollege.

Echte Rebellen sind selten, nicht gewollt und trotzdem gesucht

Jedes Unternehmen ist ein individuelles System mit Normen und Werten. Wer in ihm erfolgreich sein will, muss sich mit diesen Normen und Werten einverstanden erklären, sie mittragen und füllen. Wer das nicht tut, nicht will oder nicht kann, der scheitert oder geht besser. Zum Teil haben wir bereits bei Eintritt die selben Werte (siehe Berufsidentität Teil 1 und Teil 2). Logisch, denn sonst würde uns niemand einstellen, weil Menschen gesucht werden, die von vorne herein die Werte des Unternehmens stärken. Echte Rebellen auf den normalen Recruiting-Wegen zu finden ist schwierig. Und oft auch nicht gewünscht, denn „Die bringen uns bloß den Laden durcheinander … aber neue Wege müssten wir schon langsam mal gehen…“ (siehe Änderung der inneren Einstellung) Und zum Teil nehmen wir die Werte des Unternehmens an. Je länger wir in einem Unternehmen sind, desto mehr verändert uns dessen Kultur. Wir werden – unbewusst! – der Organisation immer ähnlicher.

Wir lieben und hassen Konformität

Wir wollen dazugehören. Das fordert unsere sippensoziale Menschennatur. Deshalb ordnen wir uns gerne unter und machen mit. Dafür bekommen wir Anerkennung, werden als ein XYaner/in von unserem sozialen Umfeld wahrgenommen und erschaffen damit unseren sozialen Status. Vielleicht sogar werten wir uns mit einem klangvollen Marken-Arbeitgeber und Titel auf und fühlen uns nicht mehr ganz so klein, unbedeutend, verletzlich und sicherer im unsicheren Leben.
Gleichzeitig wollen wir als eigenständiges Individuum mit Bedürfnissen, Wünschen, Hoffnungen und Emotionen wahrgenommen werden. Nur, dazu werden Unternehmen und Organisationen nicht gegründet. Das ist nicht ihre Aufgabe. Das wissen wir zwar, fordern aber dennoch unsere Wahrnehmung als Mensch. Einfach deshalb, weil wir uns schließlich engagieren und durch unsere Unterschrift am Arbeitsvertrag unsere Werte preis geben und unser Einverständnis zur Identifikation, also Loyalität, geben. Schließlich verbringen wir sehr viele unserer Wachstunden, und damit gefühlt einen großen Teil unseres Lebens, in der Bude.

Hier beginnt die Rebellion und die Lust an ihr

Die Normen und Werte eines Unternehmens und einer Organisation sind niemals zu 100% unsere eigenen Werte und Normen. Das ist gesund. Sonst würden wir total den Boden unter den Füßen verlieren, sobald die Zeit dort beendet ist. Das gelingt nicht jedem, wie wir alle aus Beispielen wissen. Es ist also normal, dass wir rebellieren. Wir fühlen uns wohl, wenn wir dagegen sind. Seien es Entscheidungen von Vorgesetzten, seien es die Reisekostenregelungen oder das Abschmeck-Vermögen des Kantinenkochs. Denn erst durch das Nicht-Einverstandensein können wir uns als Individuum erleben und begreifen: „Hoppla, ich bin noch ich.”

Wenn die Rebellion zum Lebensplan wird

Wir kennen sie alle, die „ewigen Grantler”. Sie regen sich über alles auf und noch viel mehr. Ich frage mich dann immer: Was würden sie denken und tun, wenn man ihnen systematisch immer alles so bereitet, wie sie es wollen? Würden sie sich dann irgendwann selbst widersprechen, einfach weil sie das Dagegensein so sehr zum Inhalt gewandelt haben, dass sie schon gar nicht mehr wissen, was sie überhaupt wollen?

Der „ewige Grantler” steckt in uns allen

Es ist einfach nur angenehm, schön und auch sehr befriedigend, dagegen zu sein, Schlupflöcher aufzutun und die Dinge zu seinem eigenen Vorteil zu gestalten. Denn dann nehmen wir uns als eigenständige Persönlichkeit mit individueller Behandlung wahr. Auch, wenn wir diese Behandlung uns selbst angedeihen lassen. So regen wir uns famos auf, an einem sonnensatten Frühlingstag bis Abends in der Arbeit bleiben zu müssen. So gerne würden wir die endlich flutenden Strahlen draußen im Freien genießen, die Seele im Rausch des Frühlings baumeln lassen und das Leben überhaupt mit „Latte” im Café feiern. Stattdessen schaufeln wir Aktenberge. Rebellion!

Wir kreieren unser Traumleben durch Rebellion

In trüben Gedanken an die Sonnensitzerei im Café malen wir uns aus, was wir alles tun würden, wenn wir endlich genug Geld und Zeit hätten oder endlich in Urlaub oder Ruhestand sind. Bloß was tun die meisten, die irgendwann diese Zustände erreicht haben? Sie tun genau das nicht, wovon sie oft Jahrzehnte geträumt hatten. Denn plötzlich sind sie leicht zu haben, die vormals verbotenen Früchte des Nachbars Baum. Da steht die Terrassentüre Sperrangel weit offen zum Sonnengarten, dem Sehnsuchtsort vergangener Tage. Doch drinnen läuft der Fernseher und die Kellerschächte müssen endlich mal wieder gereinigt werden.

Muster des „ewigen Rebellen”: ohne Rebellion kein Lebenssinn

Der „ewige Rebell” weiß nichts mit sich anzufangen, sobald der Grund für die Rebellion nicht mehr existiert. Meist behilft sich der „ewige Rebell” mit neuen Feindbildern. Das ist nicht weiter schwierig, denn dagegen zu sein, ist das am einfachsten zu kreierende Motivationsprogramm dieser Erde. (Siehe Radikalismus in Politik und Religion) Spannend wird es, wenn der Rebell zur Erkenntnis gelangt, im Grunde nie etwas gewollt zu haben, das nicht einfach nur ein Gegenprogramm zu etwas bereits Bestehenden gewesen ist. Einfach etwas wollen und dafür kämpfen, weil es wert ist, auf die Welt zu gebracht zu werden. Und ohne dabei den Funken eines Gedankens zu verschwenden, damit gegen etwas zu kämpfen oder etwas beseitigen zu wollen.

Woher kommt das Muster des „ewigen Rebellen”?

Meist wurde der „ewige Rebell” in der Kindheit durch zu viele Regeln und zu viel maßregelnde Verhaltensdisziplin in seiner freien Äußerung unterdrückt. Der „ewige Rebell” lernte, dass sein Können und seine Bedürfnisse nicht viel zählen bzw. diese gar nicht existieren. Er konnte nie lernen auf sein Herz zu hören. Er lernte nie zu unterscheiden zwischen Bauch-, Herzgefühl und Denken. Ja er lernte sogar, ganz aktiv diese innere Stimme durch Strenge zu sich selbst und rigoroses Einhalten von Regeln deutlich leiser zu drehen. Irgendwann, so hoffte er, wird sie endlich Ruhe geben und dann könne er sich ganz dem Funktionieren widmen, was ihm die schönen Früchte Erfolg, Ansehen, Ruhm und Macht bescheren werden.

Das nahm ihm auch den Mut, „sein eigenes Ding” zu machen. Im Versorgungswerk von Unternehmen und Organisationen lebt es sich wie einst im Hotel Mama. Die vegetativen Bedürfnisse des Menschen sind gestillt, ein bißchen Anerkennung und Status gibt es auch. Dafür lässt sich schon in die Zitrone der eigenen versagten Selbstverwirklichung beißen. Denn draußen, im echten Leben, da geht es rauh zu. Hat Mama immer gesagt und Papa sowieso. Dazu sei man noch zu klein und überhaupt ohnehin nicht fähig.

Hey Leute, mehr richtig-wertvolle Rebellen wären richtig gut!

Den wahren Rebell erkennt man nicht am Rauschebart, seinen Tattoos und der fetten Harley. Den wahren Rebell erkennt man durch die Ergebnisse, die sein Tun in der Welt hinterlässt.

Wahre Rebellen verkleiden sich nicht

Siehe Martin Luther, Mahatma Gandhi, Martin Luther King, Nelson Mandela. Sie sollen hier nur exemplarisch für die unzähligen wahren Rebellen aller Zeiten stehen.
Freilich ist es deutlich einfacher, als Rebell wahrgenommenen zu werden, wenn das Äußere möglichst rebellisch gegen die herrschenden Konventionen erscheint. Wir erhalten damit stante pede neidische/ anerkennende/ bewundernde Blicke und Reaktionen. Doch ändern werden wir damit garantiert nichts. Weder bei uns noch in der Welt.

Frage Dich, wenn Du wieder einmal gegen etwas oder jemanden bist:
  • Bin ich dagegen, um mich als wichtig/ wertvoll/ einflussreich/ mächtig wahrgenommen zu fühlen?
  • Wie sieht mein eigenes Konzept aus, das aus sich selbst heraus entsteht, ohne sich an anderen zu orientieren und als Gegenentwurf zu verstehen?
  • Bin ich neidisch auf eine Person der „Gegenseite” oder dessen Fähigkeiten?
  • Wieso bin ich so sehr dagegen? Was finde ich gut an den Ideen und Vorschlägen anderer?
  • Ist mein „Gegenkonzept” wirklich so sagenhaft gut? Wirklich? Wirklich? Beweise es!

 

Gute Zeit & Viele Grüße!

Jörg Romstötter

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Meine Hilfestellungen zur Selbstführung und damit zur Führung anderer, erscheinen nicht immer leicht in ihrer Umsetzung. Wobei sie sich gerne offenkundig plausibel, „einfach” und eingängig lesen. Diese Vorgehensweisen, werde in ihrer Umsetzung sowohl als äußerst einfach und äußerst schwierig empfunden. Je nachdem, welche Qualität innere „Arbeit” jemand schon mit sich angestellt hat. Selbstführung beginnt mit der Selbst-Begegnung. Ohne sie ist jede erlernte Vorgehensweise lediglich vordergründiges Tun und funktioniert nur rudimentär: Wir werden als „Tool-Anwender” entlarvt.

Selbst-Begegnung ist ein Stufenprozess: Wer eine „Stufe” erreicht hat, sieht sich unmittelbar mit der nächsten konfrontiert. Wer keine „Stufen” erkennt, ist nicht etwas schon „angekommen” oder gar „fertig”. Der sieht lediglich (unbewusst) von der nächsten Stufe weg. Was natürlich auch völlig ok ist.

Eine der wirksamsten Möglichkeiten zur Selbst-Begegnung und gleichzeitig zur Selbstführung ist seit jeher die Natur. Und dabei im Besonderen das Alleinsein draußen. Sich selbst ein wenig zuhören inmitten der weitenden, klärenden, stärkenden und erdenden Natur, ist ein ganz besonderes Geschenk. Ich wünsche Dir und mir den Mut, dass wir uns dieses Geschenk immer wieder machen.