„Etwas fehlt immer!” Wir kennen das zur Genüge. Nicht nur zu Corona-Zeiten. Doch paradox: je mehr wir uns mit dem Mangel befassen, desto größer wird er. Egal, wie sehr wir uns anstrengen und es gut meinen. Nur, wenn wir die Ursachen des Mangels verändern, können wir den Mangel beheben.
Das Leben könnte so schön sein, wenn…
wir Menschen nicht die Dränge der Neugier (Wahrnehmungsinteresse), Bestätigung (Primär-Narzissmus) und Bewegung (psychosomatisch) hätten. Wir wären vielleicht nicht einmal Menschen geworden, damals vor über 2 Mio. Jahren. Mh, darüber ließe sich nun famos philosophieren… Doch gerade wenn wir die Zeit unserer frühesten Ahnen rekonstruieren wird uns deutlich, wie wichtig dieses „Auf-den-Mangel-fixieren” ist. Wie damals so auch heute: hat dein Zelt ein Loch, wirst du und dein ganzes Zeug nass. Das ist nicht nur unangenehm, du wirst wohl auch klamm und steif, kannst dich nicht richtig erholen und bist nicht fit für den nächsten Tag. Womöglich wirst du sogar noch krank. Nur nützte es damals, so wenig wie heute, die durchs Dach fallenden Tropfen anzufauchen und sich über die Dilettanten (meist man selbst) zu beschweren, die das Loch verursacht oder noch nicht ausgebessert haben. So lange das Loch nicht geflickt ist, kann das Feuer noch so schön wärmen, der Braten noch so lecker sein und die Gesellschaft noch so angenehm. Den fallenden Tropfen gehört unsere gesamte Aufmerksamkeit. Wie heute so auch damals muss der Zeltbewohner das einsetzen, das im Mangel ist. So unangenehm es auch sein mag: Du musst hinaus in den Regen und irgendetwas über das Loch legen oder kleben oder… Du musst aktiv in die noch größere Nässe gehen, um trocken zu wohnen. Doch wieso ist das so furchtbar schwer? Dazu gleich mehr.
Das Gesetz vom Minimum
Justus von Liebig schuf das Modell der unterschiedlich langen Fassdauben und dem daraus sich ergebenden maximalen Füllstand des Fasses. Es dient noch heute bei der Pflanzenernährung in Land- und Forstwirtschaft und Gartenbau der maximal zu erzielenden Erntemenge oder Pflanzengesundheit. Ich verwende dieses Modell gerne abgewandelt (siehe Beitragsbild) auf das Wirtschaften in einem Unternehmen. Der Erfolg des Unternehmens erreicht immer nur die Ausmaße, welche durch die vorhandenen Ressourcen „ernährt” werden können. Im Bild habe ich die „Fassdaube Zeit” am kürzesten gewählt. Einfach, weil heute quasi immer die Zeit der limitierende Faktor für jeglichen Erfolg ist. Alle anderen Faktoren lassen sich so gut wie immer durch Kapital aufstocken. Und Kapital lässt sich meist vergleichsweise leicht beschaffen. Personal ist auch irgendwie immer die zweitkürzeste Fassdaube, da es sich zwar quantitativ durch Kapital aufstocken lässt. Qualitativ allerdings nur die Unternehmenskultur die richtigen Menschen an Bord kommen und bleiben lässt. Und Kultur lässt sich nicht kaufen. Nein, sorry, die muss man selbst machen. (Lässt sich auch nicht an einen Coach deligieren. Der kann allerdings helfen, sie zukunftsfähig zu entwickeln.)
Paradox, doch einzig hilfreich: Wir müssen das Fehlende einsetzen
Jetzt ist ein Leichtes – und deshalb auch die Lieblingsmethode von leider viel zu vielen Führungskräften – ständig den Zeitmangel an jeder möglichen und unmöglichen Stelle ins Felde zu führen, weil dies und jenes eben nicht geschafft wird. Wir kommen aus dem Dilemma Zeitmangel nur, indem wir Zeit einsetzen. Wir müssen hinaus in den Regen und beim Abdichten des Loches nässer werden, als wenn wir im tropfenden Zelt sitzen bleiben würden. Wir müssen Zeit einsetzen, um mehr Zeit zu erhalten. Üblicherweise geschieht das durch Rationalisierung, Optimierung, Automatisierung, Weglassen, Vermeiden, Fokussierung, Auslagerung, Kapazitätenerweiterung (mehr Personal) usw.
Das Leben ist ein Investment-Spiel:
- Wer nichts investiert, bekommt auch nichts heraus.
- Manches Investment trägt sehr viele Früchte. Oft erst spät.
- Nicht jedes Investment lohnt sich.
- Wer mehr einnimmt als er ausgibt, hat immer genug.
- Wer mehr ausgibt als er einnimmt, wird unweigerlich arm.
Der Zeitmangel ist nicht das Problem. Er ist die Wirkung unseres Verhaltens.
Wir erkennen den Zeitmangel als Problem. Nur können wir den Zeitmangel niemals beheben, wenn wir ihn fokussieren und am Zeitmangel selbst etwas verändern. Der Zeitmangel ist ein Ergebnis von Verhaltensweisen. Der Zeitmangel ist nicht Ursache. Der Zeitmangel ist bereits die Wirkung unseres Verhaltens. Unser historisches und aktuelles Verhalten führt zu Zeitmangel.
Jetzt alle Zeitmanagement-Regeln aufzuführen ist ein Leichtes. Doch es lindert nur die aktuellen Symptome unseres nicht-zukunftsfähigen Verhaltens. Schließlich wollen wir mit unserem Verhalten ja etwas bewirken: Wir wollen Ziele erreichen, etwas verändern, „Erfolg” usw.
Wir können uns an diese Zeitmanagement-Regeln nicht halten, weil wir tief sitzende, völlig unbewusste, Überzeugungen haben, die uns eben gerade Zeit verschwenden lassen. Darum greifen sehr viele „Verbessere-Dich-selbst-Weisheiten” ja auch nicht. Weil wir, wieder unbewusst, erkannt haben: verwenden wir Zeit wie wir es eben tun, bringt uns unser Tun eben gerade nicht unseren Zielen näher. Das hat einen größeren Nutzen für uns als unsere Ziele und Gott sei Dank bleibt alles wie es ist.
Mangel schützt vor Erfolg
Vielleicht beschäftigen wir uns deshalb so gerne mit allen möglichen Dingen, von welchen wir meinen, sie seien wichtig. Im Grunde verhelfen sie uns nur dazu, den aktuellen Zustand unserer Umstände so lange wie möglich aufrecht zu erhalten. Ganz nach dem Motto „Lieber bekanntes Leid als unbekannte Freude”. Veränderungsangst. So sehr wir uns Erfolg (wie auch immer der konkret aussehen mag…) wünschen. So sehr arbeiten wir – unbewusst! – daran, dass sich nur ja nichts ändert. Selbstsabotage nennen wir das auch.
Mangeldenken macht dumm. Mangel erzeugt Angst.
Wie der Zeltbewohner, der trotz gutem Feuer, leckerem Braten und bester Gesellschaft an nichts anderes mehr denken kann als die fallenden Tropfen, so macht uns Mangeldenken dumm. Es ist eben gerade NICHT so, dass wir durch das ständige Hinweisen auf Knappes, Fehlendes, Mangelhaftes, Schlechtes usw. die Motivation drastisch erhöhen. Leider ist es nur Wunschdenken, alle mögen sodann wie von der Tarantel gestochen endlich diesen Mangel beheben als gäbe es kein Morgen. Ein Wunschdenken, das üblicherweise von Menschen angewendet wird, die bisher hauptsächlich Führen mit Angst zu ihrem Repertoire zählen können, um mit anderen Ziele zu erreichen.
Vielleicht kommen diese Führungskräfte nur mit anderen klar, wenn diese im Modus der reduzierten Fähigkeiten vegetieren (Angstmodus). Also hat eine solche Führungskraft Angst. Angst, andere könnten mindestens ebenbürtige Leistungen und Wissen erreichen, das zu ihrem eigenen Sturz führen könnte. Mutmaßlich. Eine Angstfantasie. So verwundert es uns nicht, gerade bei diesen Führungskräften Mangel an Empathie, Verständnis, vorausschauendem Handeln und Selbstkontrolle festzustellen. Alles Zeichen für eingeengtes Denken unter Angst.
Vor allem unbewusst fesselt Knappes unser Denken. Bei jedem.
Knappes, Fehlendes, Mangelhaftes kurbelt völlig automatisch unser bewusstes, teilbewusstes und unbewusstes Fantasiedenken an. Wir ahnen schier, worauf wir uns zubewegen. Das macht uns Angst. Auch wenn wir diese Angst als solche nicht bewusst wahrnehmen können. Diese diffuse Angst beeinflusst unser Verhalten 24 Stunden am Tag. Teile unseres bewussten und unbewussten Denkens sind immer mit diesem Mangel beschäftigt. So lange, bis wir den Mangel und seine tatsächlichen Ursachen anerkennen und Schritte für seine Beseitigung einleiten. Dann sind wir im Lösungsmodus und unsere Fantasien entwickeln sich rund um die Lösung.
Angst und Knappheit ernähren sich selbst. Sie reduzieren von jedem(!) die Bandbreite des Denkens und damit in Summe die eigentlich vorhandenen Fähigkeiten. Das sorgt dafür, dass Angst und Knappheit erhalten bleiben, ja sich sogar durch ihre Eigendynamik verschlimmern.
Was uns Angst macht, erscheint übermäßig groß und bedeutsam
Wir werden unglücklich und richten noch mehr Aufmerksamkeit auf den Mangel. Ja, wir werden immer feinfühliger bereits erste Anzeichen des Mangels zu entdecken. Das Gefühl unglücklich zu sein, ist bereits Angst. Denn wir erkennen eine Diskrepanz zwischen Soll-Glücks-Zustand und Ist-Glücks-Zustand. Wir arbeiten täglich daran unsere empfundenen Ist-Zustände Richtung der angestrebten Soll-Zustände zu entwickeln.
Die Krise ist schon der Wendepunkt
Der erste und wichtigste Schritt aus solch einem Schlamassel ist, sich bewusst zu machen, bzw. sich einzugestehen, dass Angst im Spiel sein könnte oder gar ist. Genauso, sich einzugestehen, dass man sich in einer Krise befindet. Es also tatsächlich besser laufen könnte und es schlechter wird, wenn wir unser Verhalten beibehalten. So lange wir uns Angst nicht eingestehen, handeln wir immer nur an der Oberfläche der Geschehnisse. Als würden wir „um den heißen Brei herumreden”. Dann brauchen wir noch mehr Führungstools und noch mehr Wissen und noch mehr Bedenkzeit usw. Und alles bleibt schlechter.
Spielwiese der Knappheit: Askese
Askese ist bewusst gewählte Knappheit, die als Bereicherung gewählt wird. Wählen wir Knappheit bewusst, haben wir auch keine Angst. Genauso, als wenn wir Angst auslösende Situationen bewusst wählen. Dann haben wir dennoch Angst, doch wir fühlen uns durch sie beflügelt. Mehr zur Askese findest Du hier.
Vielen Dank an: Sendhil Mullainathan und Eldar Shafir für ihr „Knappheit: Was es mit uns macht, wenn wir zu wenig haben”, 2013
Gute Zeit & Viele Grüße!
Jörg Romstötter
PS: Kennst Du schon die Blog-Ebooks? Wissen praktisch nach Themen sortiert: hier.
Meine Hilfestellungen zur Selbstführung und damit zur Führung anderer, erscheinen nicht immer leicht in ihrer Umsetzung. Wobei sie sich gerne offenkundig plausibel, „einfach” und eingängig lesen. Diese Vorgehensweisen, werden in ihrer Umsetzung sowohl als äußerst einfach und äußerst schwierig empfunden. Je nachdem, welche Qualität innere „Arbeit” jemand schon mit sich angestellt hat. Selbstführung beginnt mit der Selbst-Begegnung. Ohne sie ist jede erlernte Vorgehensweise lediglich vordergründiges Tun und funktioniert nur rudimentär: Wir werden als „Tool-Anwender” entlarvt.
Selbst-Begegnung ist ein Stufenprozess: Wer eine „Stufe” erreicht hat, sieht sich unmittelbar mit der nächsten konfrontiert. Wer keine „Stufen” erkennt, ist nicht etwas schon „angekommen” oder gar „fertig”. Der sieht lediglich (unbewusst) von der nächsten Stufe weg. Was natürlich auch völlig ok ist.
Eine der wirksamsten Möglichkeiten zur Selbst-Begegnung und gleichzeitig zur Selbstführung ist seit jeher die Natur. Und dabei im Besonderen das Alleinsein draußen. Sich selbst ein wenig zuhören inmitten der weitenden, klärenden, stärkenden und erdenden Natur, ist ein ganz besonderes Geschenk. Ich wünsche Dir und mir den Mut, dass wir uns dieses Geschenk immer wieder machen.