Agile Leadership konkret: Führung wird wichtiger, weil deutlich anders

„Ja wenn sich Teams selbst organisieren und sogar selbst entscheiden, was sie bis wann machen… Wer braucht dann noch Führungskräfte?” Verunsicherung macht sich in Führungsebenen breit. Wird es wirklich so schlimm oder zeigen sich nicht auch große Chancen?

Vom Einforderer zum Ermöglicher

Gerade von Führungskräften wird beim Eintritt in die agile Welt eine Metamorphose verlangt, die es für manche in sich hat. Führen heißt nicht länger Befehle weiterzugeben und deren Erfüllung einzufordern. Führung erhält wieder den Auftrag, den sie ursächlich hatte: Voran zu gehen und für Entscheidungen persönlich einzustehen. In manchen (Konzern-)Strukturen war das weder notwendig oder gar gewünscht. Gerade Patriarchen jeden Alters dulden keine Götter neben sich. Schwimmen ihnen plötzlich die Felle (Kunden) davon, rüttelt ein gewisses Freilassen der gedrillten Untergebenen an den eigenen (Angst-)Grundfesten.

Kontrolle ist gut, Vertrauen ist besser

Befehl und Kontrolle ist wie führen durch Leiten an der Hand. Kinder, Blinde, Gebrechliche und Tiere fühen wir so. Also jemand, der ohne Fremde Hilfe nur unter Gefahren oder bedingt voran kommt oder der eine Gefahr für andere werden könnte. Sehen wir die Menschen in unserem Unternehmen wirklich so? Und wenn der Geführte nicht folgt, dann gibt es disziplinarische Maßnahmen (Angstmache bzw. Liebesentzug)?
Für manche Führungskräfte bricht eine Welt zusammen, weil sie nie gelernt haben, echt zu führen, bzw. in einem Umfeld agieren, in dem noch nie geführt wurde, sondern gepresst. Um das zu können, braucht es keinerlei Führungswissen. Nur Skrupellosigkeit, vielleicht Naivität, Bequemlichkeit oder genug Angst.
„Und wenn die nicht tun wie ich sage, dann habe ich kein Druckmittel.” So ein Teamleiter, der sich nun mit lateraler Führung konfrontiert sieht. Ihm ist kein Vorwurf zu machen. Er hat es nie anders kennen gelernt. Für ihn ist das seine Realität in der er sich zu behaupten gelernt hat.

Eine Teamleiterin: „Dann habe ich XY meinem Team empfohlen, doch die haben es nicht angenommen.”
Ich: „Stehen Sie dazu? Finden Sie das wichtig?”
Teamleiterin: „Ich weiß nicht recht.”
Ich: „Würden Sie jemandem glauben und die Dinge ausprobieren, der offensichtlich nicht dazu steht?”
Teamleiterin: „Ähm, Nein. Ok, ich sehe schon, das ist eine ganz neue Qualität der Führung für mich. Das habe ich so noch nie gebraucht.”
Ich: „Und dann werden Sie sehen: Wenn Sie davon überzeugt sind, dann wird Ihr Vorschlag ganz anders wahrgenommen. Ihre Leute setzen sich damit auseinander. Dann werden sie die Vorteile für sich erkennen. Dann brauchen Sie selbst nichts mehr zu tun, denn Ihre Leute packen das selbst an.”
Teamleiterin: „Ich muss also vorher mehr an eigener Überzeugung, Zeit und Diskussion investieren und dafür später in der Umsetzung umso weniger. Das gefällt mir irgendwie, auch wenn ich mir das noch genauer erschließen muss.”

Echtes Führen heißt nun einmal Führen-durch-voran-Gehen-und-Schützen:
  1. Die optimale Richtung herausfinden (allein, oder doch besser mit Fähigen?)
  2. Die dafür erforderlichen Schritte erarbeiten (allein, oder doch besser mit Fähigen?)
  3. Diese Schritte entschieden (voran) gehen (allein? Die Fähigen kommen dann definitiv mit!)
Braucht es tatsächlich weniger Führungskräfte?

Die Frage von mehr oder weniger orientiert sich nicht nur an der Zahl der Geführten, sondern auch deren Wissens- und Leistungsniveau sowie er Komplexität der Aufgaben. Da diese kaum sinken wird und die Qualifizierungslevel eher zunehmen, sowie Leistungs- und fokusfördernde Strukturen permanent optimiert gehören, ist die Antwort auf diese Frage eher qualitativ zu beantworten.
Ja, es braucht deutlich weniger Führungskräfte, die nach alten Mustern „führen”. Und Ja, es braucht deutlich mehr Führungskräfte, die das Zeug haben, anderen ein optimales Arbeitsumfeld zu schaffen, damit diese „ihre PS auf den Boden bringen.” Das ist die höchste Kunst der Führung. Auch dafür gibt es wie aus Gotteshand geschaffene Typen: „Sorry, ich kann nur führen.”
Wahrscheinlich braucht es sogar deutlich mehr Ermöglicher als wir heute absehen können. Denn Ermöglicher müssen Unternehmensvision und Kundennutzen sehr gut absorbiert haben, damit sie überhaupt erkennen, wo und wie ihre Ermöglicher-Arbeit die größte Wirkung und den größten Nutzen entfaltet. Das bedarf schon Typen, die sich einer Sache echt verschreiben. Und für solche „Selbstläufer” gibt es immer mehr als genug zu tun.
Für Führungskräfte, die in agile Strukturen hineinwachsen (wollen/dürfen/können/müssen) bedeutet dies, sich seiner eigenen Motive und Talente bewusst zu werden und sich letztlich auf eine Seite zu schlagen. Es ist also deutlich mehr Eigeninitiative und Selbstverantwortung gefordert. Und Ja, dies birgt seine Risiken UND Chancen!

„Will ich mich so exponieren?”

Hier verbirgt sich ein grundlegendes Hinterfragen der Einstellung. War es bisher möglich, sich hinter einer Titel-Fassade zu verstecken und emotional zu schonen, ist dies in einer agilen Welt nicht mehr so einfach möglich. Wir können eine vortreffliche Fassade kreieren, die wir nach Gutdünken aufsetzen, um uns nur ja geschmeidig durch Herausforderungen zu lavieren. Kurzum: Jemand anderen darstellen als der wir sind. Weshalb auch immer. Diese Fassade oder Maske entspricht der Persona, der Maske der Schauspieler des antiken griechischen Theaters. Mit ihr ist einfach umzugehen. Sie zeigt, was sie ist. Wer keine Lust hat, setzt sich mit dem Träger der Maske nicht auseinander. Das ist der Knackpunkt und das Damoklesschwert, das über den Maskenträger schwebt: Der Mensch bleibt egal. Also bitte nicht aufregen, wenn man sich dann als „Nummer”, als „Produktionsfaktor” oder gar „Humankapital” wahrgenommen und behandelt fühlt.
Wollen wir als eigenständige Person wahrgenommen werden, kommen wir nicht umhin uns zu zeigen. Dieses Zeigen kann ein kraftvolles „Im Einklang mit sich selbst” sein. Wir lassen zum Vorschein im Außen kommen, was seinen Ursprung im Innen hat. Es kann nur „tönen”, was wir in uns selbst anstimmen. Na bitte, hier zeigt sich die Herkunft des Wortes Person aus dem Lateinischen per sonare, hindurch-tönen.

„Zurück” auf die Fachebene – für manche Experten DIE Erlösung und Karrierechance

Wer sich durch Leistung und Qualität hervor getan hat und mehr verdienen bzw. befördert werden sollte, der musste bis heute mehr Verantwortung für Personal und Budget übernehmen. Also genau das tun, worauf gerade Fachexperten überhaupt keine Lust haben. Schließlich war die Leistungsmotivation im fachlichen Tun begründet. Führungs- und Budgetaufgaben wurden dann eher als notwendiges Übel in Kauf genommen. Wohl auch, um sich sozial zu etablieren. Ein doppelter Knieschuss, denn damit verwässert sich Experte sein Fachprofil und läuft seinem eigenen Anspruch an Fachwissen hinterher, fühlt sich irgendwann von anderen überholt und im schlimmsten Fall sogar abgehängt. Zweifel, durch Verlustängste (siehe Beitrag Agile Angst) hervorgerufen, stellen sich ein und ein Ausbrennen durch vergeudete Energie in ungeliebten Aufgaben rückt bedrohlich nahe. Dieses Thema findet in diesem Beitrag Raum.

Gerade die agile Welt eröffnet für Experten neue Horizonte

Plötzlich werden Menschen gesucht, die sich „mit Haut und Haaren” der Funktionstüchtigkeit eines Produktes verschreiben. Die gerade alles nicht mehr tun, was nicht mehr (un)mittelbar dem Kundenerfolg dient. Und da gerade der Nutzen des Kunden als alleiniges Maß der Dinge gilt, hat eine reine Fachfunktion ohne Personal- und Budgetverantwortung auch keinerlei Gehaltseinbußen zur Folge. Auch das Ansehen innerhalb und außerhalb des Unternehmens erleidet (zukünftig) keinen Knick: Angesehen ist, wer Nutzen stiftet. Auch gesellschaftlich wird sich da einiges tun.

Ja, Veränderung macht immer auch Angst

Auf die Ängste, die durch die agile Transformation entstehen, gehe ich im Beitrag „Agile Angst” ein.
Die nötige Neudefinition von Fehlern zeige ich im Beitrag „Gibt es so etwas wie „Fehler” tatsächlich?

Wir sehen, es sind Neudefinitionen von bekannten Werten nötig, wie:

Macht, Einfluss und Ansehen
Nicht mehr über Titel, sondern über Engagement, Ergebnisse und Potenziale.

Kontrolle
Nicht mehr über Kennzahlen, sondern über erwiesenen Nutzen und permanente Optimierung der Ermöglichung.
Vertrauen durch Verantwortung.

Entscheidung
Nicht mehr nur durch Einzelne, sondern vorbereitet durch Viele und damit auf breiterem Konsens und damit mehr Konsistenz. Letztlich entschieden dennoch durch Einzelne. Sonst verstricken wir uns in Inkonkretem und Konsequenzlosigkeit.

Führen
Nicht mehr durch Befehl und Kontrolle sondern durch Vertrauen und Ermöglichen.

Fehler und Psychologische/ partizipative Sicherheit
Jeder Lernprozess ist ein Fehlerprozess. Nur wer sich sicher fühlt kann lernen.

Unternehmenswerte und persönliche Werte
Geduld, Beharrlichkeit und Ausdauer helfen über Durststrecken, Ehrenrunden und Rückschläge

Zum Schluss noch ein wenig Lebensphilosophie: Wir sind niemals fertig. Packen wir es an.

Die Aussicht, niemals fertig zu sein, niemals ausgelernt, niemals wirklich „Urlaub” oder „Ruhestand” zu haben, kann erschrecken oder befreien.
Sie kann erschrecken, wenn wir meinen, unser Leben in planbaren Schubladen „ableisten” zu können. Und wenn wir der Illusion aufsitzen, irgendwann „fertig” mit unserer eigenen Entwicklung (= Erkenntnisse) zu sein.
Sie kann befreien, wenn wir begreifen, dass das Leben erst zu Ende ist, wenn wir „unseren letzten Schnauferer” machen. Dann haben wir plötzlich noch ungemein viel Zeit und viel Interessantes vor uns.

Gute Zeit & Viele Grüße!

Jörg Romstötter

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Meine Hilfestellungen zur Selbstführung und damit zur Führung anderer, erscheinen nicht immer leicht in ihrer Umsetzung. Wobei sie sich gerne offenkundig plausibel, „einfach” und eingängig lesen. Diese Vorgehensweisen, werde in ihrer Umsetzung sowohl als äußerst einfach und äußerst schwierig empfunden. Je nachdem, welche Qualität innere „Arbeit” jemand schon mit sich angestellt hat. Selbstführung beginnt mit der Selbst-Begegnung. Ohne sie ist jede erlernte Vorgehensweise lediglich vordergründiges Tun und funktioniert nur rudimentär: Wir werden als „Tool-Anwender” entlarvt.

Selbst-Begegnung ist ein Stufenprozess: Wer eine „Stufe” erreicht hat, sieht sich unmittelbar mit der nächsten konfrontiert. Wer keine „Stufen” erkennt, ist nicht etwas schon „angekommen” oder gar „fertig”. Der sieht lediglich (unbewusst) von der nächsten Stufe weg. Was natürlich auch völlig ok ist.

Eine der wirksamsten Möglichkeiten zur Selbst-Begegnung und gleichzeitig zur Selbstführung ist seit jeher die Natur. Und dabei im Besonderen das Alleinsein draußen. Sich selbst ein wenig zuhören inmitten der weitenden, klärenden, stärkenden und erdenden Natur, ist ein ganz besonderes Geschenk. Ich wünsche Dir und mir den Mut, dass wir uns dieses Geschenk immer wieder machen.